Altersbilder

09.10.2017

„Opa ja, alt nein!“

Älterwerden hat viel mit der Teenie-Zeit gemeinsam, sagt der Sozialwissenschaftler Bernhard Meyer. Er erkennt eine neue Lebensphase: die Alterspubertät.

Herr Prof. Meyer, Sie sind heute Anfang 70. Welche Vorstellung vom Alter beziehungsweise vom eigenen Älterwerden hatten Sie als junger Mann?

BERNHARD MEYER: Mich haben damals vor allem jene Altersbilder geprägt, die in Kinder- und Schulbüchern auftauchten. Darin häufig zu sehen: Die Oma strickt, der Opa sitzt im Lehnstuhl. Beim Essen wird er dann, weil seine Hände so zittrig sind, mit einer bruchsicheren Holzschüssel in die Ofenecke verbannt. Auch an meine alte Tante erinnere mich. Sie hatte Gicht und wurde zuhause gepflegt. Es sind also vor allem Bilder der Gebrechlichkeit.

Und wie ist das heute? Wie nehmen Sie das Alter wahr?

MEYER: Ich musste feststellen, dass vieles, was ich früher über das Alter gelernt habe, auf mich und andere nicht zutrifft. Heutzutage – und das hat auch unser Forschungsprojekt bestätigt – fühlen sich die Menschen erst dann alt, wenn geistige oder körperliche Einschränkungen unumkehrbar sind. Wie zum Beispiel durch Demenz. Eine neue Hüfte oder Ähnliches sind hingegen keine Indizien mehr für Alter. Ersatzteil rein, Reha gemacht und schon ist ein Hüftleiden nichts, was den Alltag negativ beeinflussen muss.

Sie würden sich also gar nicht als „alt“ bezeichnen?

MEYER: Nein, wie kommen Sie denn darauf? Vor Kurzem bin ich beim Spazierengehen einer Mutter mit ihrem kleinen Sohn begegnet. Der Junge zeigte auf mich und rief: „Alter Opa!“ Ich habe das gleich klargestellt: „Opa ja, alt nein!“ Ich bin zwar nicht mehr an der Hochschule tätig, forsche aber trotzdem weiter und halte Vorträge. Alles, was sich geändert hat: Ab und zu vergesse ich eine Telefonnummer und nach dem Mittagessen wächst das Bedürfnis, mal eine halbe Stunde die Augen zuzumachen. Aber damit lässt sich leben und das bedeutet nicht, dass ich alt bin.

Sie haben stattdessen das schöne Wort „Alterspubertät“ für Ihre Generation erfunden. Was haben denn Jugendliche und ältere Menschen gemeinsam?

MEYER: Es geht dabei nicht um Hormone, Pickel oder Stimmungsschwankungen (lacht). Was ich meine, ist eine Zwischenpassage: Eine Zeit, in der das Alte nicht mehr sicher und das Neue noch nicht sicher ist. Die Pubertät in der Jugend ist der Übergang von der Kindheit in die Zeit von Beruf oder Studium. Durch die steigende Lebenserwartung hat sich auch zwischen den Renteneintritt und die Bereitschaft, zu sagen, „Jetzt bin ich ein alter Mensch“, eine neue Lebensphase geschoben – die Alterspubertät. Eine lange Passage, gut und gerne von 65 bis 80. Noch in den 1960er-Jahren war die Verabschiedung in den wohlverdienten Ruhestand oft gleichbedeutend mit der Verabschiedung auf die Zielgerade. Bei einer Lebenserwartung von knapp 70 blieb da nach dem letzten Arbeitstag nicht mehr viel Zeit übrig.

Sind die Möglichkeiten in der Alterspubertät ähnlich groß wie in der Pubertät der Teenager?

MEYER: Auf jeden Fall. Für viele bedeutet Ruhestand nicht Stillstand, das Ende des Berufslebens nicht der Anfang des Alterns, sondern die Chance auf eine neue Zukunft. Ähnlich wie in der Jugend ist jetzt wieder Zeit für neue, aufregende Dinge, für die im Arbeitsleben vielleicht wenig Platz war: Fremdsprachen lernen, in den Sportverein eintreten, im Chor Gitarre spielen, sich engagieren, eine neue Liebe finden. Zudem sind zwei Drittel aller 450 Euro-Jobber Rentner. 20 Prozent tun dies, um die Rente aufzustocken, die anderen machen es nicht aus ökonomischen Gründen, sondern weil sie weiter gebraucht werden und zu den Produktiven der Gesellschaft gehören wollen. Eine breite Verweigerung also, den Ruhestand wörtlich zu nehmen.

Seniorennachmittage oder Seniorenbusreisen – passen solche Angebote denn eigentlich noch zu dieser neuen Generation Älterer?

MEYER: Nein, ganz und gar nicht. Dafür ist diese Gruppe heutzutage viel zu heterogen, Stereotype greifen da schon lange nicht mehr. Ich weigere mich, im Restaurant den Seniorenteller zu bestellen oder zum karnevalistischen Altennachmittag zu gehen. Erwachsene bleiben Erwachsene und brauchen – nur weil sie kalendarisch etwas älter sind – kein neues Etikett.

Sondern?

MEYER: Das Geburtsdatum im Personalausweis bedeutet doch nicht, dass man automatisch zu einer neuen Zielgruppe gehört, die einer speziellen Behandlung bedarf. Warum gibt man nicht mehr Anreize, die Generationen zu mischen? Warum sollen die Älteren nur unter sich bleiben? Auch Bezeichnungen wie „seniorenfreundliche Gemeinde“ finde ich etwas daneben. „Altersfreundlich“ wäre passender und sollte was Angebote und Gestaltung betrifft alle einschließen – vom Kind bis zum Hochbetagten. Erst so entsteht doch Inklusion.

In der Stadt, in der ich lebe, werden regelmäßig Tagesreisen für Senioren veranstaltet. Ob das noch so zeitgemäß ist, da wäre ich ebenfalls skeptisch. Viele der Teilnehmer gehen auf Kreuzfahrten oder reisen anderweitig in der Weltgeschichte herum. Diese Menschen wollen mehr als Malen, Basteln und „Am Brunnen vor dem Tore“ singen. Wer so etwas anbietet, dem werden in Zukunft die Kunden ausgehen.

Werden die Älteren also unterschätzt, was zum Beispiel Mobilität und Abenteuerlust betrifft?

MEYER: Es gibt leider immer noch die Tendenz, Ältere fürsorglich zu belagern und zu pädagogisieren. Beispiel: Verkehrserziehung. Wir sind unser ganzes Leben Auto gefahren, sind über die Straße gegangen und jetzt sollen wir plötzlich lernen, wie man eine Ampel passiert? Das ist doch lächerlich.

Gibt es etwas, das Sie am Älterwerden schätzen?

MEYER: Zeit haben. Nicht mehr Multitasking machen zu müssen, sondern mich voll und ganz mental einer Aufgabe oder einem Menschen widmen zu können. Das ist eine für mich vollkommen neue Qualität. Dieses beruflich Durchgetaktete vermisse ich nicht.

Wir werden alle einmal in die Alterspubertät kommen. Was ist Ihr Rat, um diese Lebensphase genießen zu können?

MEYER: Man sollte seine Lebensverhältnisse stets aktiv gestalten – wie und wo auch immer. Ob im Garten, am Stammtisch, im Sportverein oder auch beruflich über die Rente hinaus. Und damit frühzeitig anfangen, nicht alles aufschieben und sein ganzes Leben lang sagen: „Ach, wenn ich in Rente bin, dann mache ich die große Reise oder kümmere ich mich um meine Freunde.“ Denn auch Reisen will trainiert werden, auch ein Netzwerk braucht Pflege.