Zu dick, zu high

24.09.2018

USA – im Land der begrenz­ten Lebens­er­war­tung

Die USA sind das reichste Land der Welt und gelten als Sinnbild für den Fortschritt. Dass die Lebenserwartung dennoch sinkt, hat nicht nur mit ungesunder Ernährung zu tun.

© M.Rode / stock.adobe.com

Die USA haben ein wachsendes Drogenproblem.

Gadsden liegt in Alabama. Eine Kleinstadt mit 37.000 Einwohnern, Tief im Süden der USA . Einmal im Jahr feiern sie den weithin bekannten Pancake Day und sind stolz auf den angeblich  längsten Flohmarkt der Welt. Mediale Aufmerksamkeit erweckte der Ort jedoch wegen eines weniger erfreulichen Rekords: Nirgendwo sonst in den USA leben die Menschen kürzer. Ein heute in Gadsden geborenes Kind wird 73,3 Jahre alt – und besitzt damit dieselbe Lebenserwartung wie die Einwohner El Salvadors, eines der ärmsten Länder der Erde.

Vier Monate weniger Lebenszeit in zwei Jahren

Gadsden ist nur der Gipfel einer Entwicklung, die Demografen schon seit einigen Jahren mit Sorge beobachten. Denn obwohl die USA nach wie vor die stärkste Wirtschaftsmacht sind und ihr Gesundheitssystem eines der teuersten weltweit ist, hält die Lebenserwartung der Menschen nicht mehr Schritt. Laut US-Gesundheitsministerium ist diese innerhalb von zwei Jahren um vier Monate gesunken – von 78,9 Jahre 2014 auf 78,6 Jahre 2016. Das letzte Mal wurde 1993 ein Rückgang verzeichnet. Damals erlebte das Land den Höhepunkt der Aids-Epidemie. Heute sind die USA der einzige OECD-Staat, in dem die Lebenserwartung zurückgeht: Fünf Jahre leben die Menschen kürzer als die Japaner und zwei Jahre als die Deutschen.

Für Peter Muennig, Professor für Gesundheitspolitik an der New Yorker Columbia University, sind auch vier Monate schon ein gewaltiger Rückschritt. „Die Lebenserwartung steigt grundsätzlich beständig. Eine solche Entwicklung ist unnormal und ein Alarmzeichen“, warnt der Wissenschaftler in der New York Times. Während Deutschland und andere Industrieländer bis 2030 mit weiteren Zuwächsen rechnen könnten, würden diese in den USA weitaus geringer ausfallen – wenn überhaupt. Was hier passiere, sei demnach „ein speziell amerikanisches Phänomen“.

Jeder Zweite in den USA ist zu dick

Besonders problematisch und untypisch für andere entwickelte Länder: Immer mehr Amerikaner sterben relativ jung. Während die Mortalitätsrate der über 65-Jährigen stetig abnimmt, wuchs die der 25- bis 34-Jährigen zwischen 2015 und 2016 um fast elf Prozent. Bei US-Bürgern bis 55 sieht es ähnlich aus. Vor oder in der Mitte des Lebens sterben sie an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Leberschäden und Diabetes, durch Schlaganfälle, Selbstmord oder „unbeabsichtigte Verletzungen“, also Unfälle, Alkohol- und Drogenmissbrauch. Laut Statistik haben acht der zehn häufigsten Todesursachen besorgniserregend zugenommen. In der amerikanischen Geschichte so noch nie dagewesen: Afroamerikaner und Latinos betrifft diese Entwicklung kaum. Im Gegenteil, ihre Lebenserwartung ist gestiegen und nähert sich mehr und mehr jener der weißen Bevölkerung an. Die Lebenserwartungskrise – sie ist vornehmlich weiß.

Die Gründe dafür findet man exemplarisch in Gadsden. 33,8 Prozent der Menschen dort sind adipös, also stark übergewichtig, und damit mehr als der ohnehin schon hohe landesweite Durchschnitt von 27 Prozent. Gemäß Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegen die USA auf Platz vier der weltweit „dicksten Länder“. Zu viel Fast Food, zu viele zuckerhaltige Getränke und zu wenig Bewegung lassen den Body-Mass-Index jedes zweiten Amerikaners über das Normalmaß klettern. Die Folgen: Stoffwechselstörungen und Bluthochdruck, Erkrankungen, die unbehandelt lebensbedrohlich sind.

Dabei geben die USA mehr für ihre Gesundheitsversorgung aus als jede andere Nation. Rund 10.000 Dollar sind es nach Angaben der Weltbank pro Jahr und Einwohner – doppelt so viel wie in Deutschland und fünfmal so viel wie für das Militär. Effektiv wirkt diese Summe indes nicht.

Schlechte Bildung ist Lebenszeitkiller

Denn trotz Obamacare, das 2013 in Kraft trat, können sich auch in Gadsden viele die Behandlungskosten und damit ein längeres Leben schlichtweg nicht leisten. Beinahe jeder fünfte der überwiegend weißen Einwohner lebt unterhalb der Armutsgrenze, unter anderem bedingt durch den wirtschaftlichen Niedergang der Stadt. Früher florierten hier im „Deep South“ Handel und Industrie, Stahlwerke dröhnten, Goodyear ließ in riesigen Hallen Reifen produzieren. In den 80er Jahren war damit Schluss: Eine Fabrik nach der anderen machte dicht, Unternehmen wanderten in Billiglohnländer ab. Dazu Straßen mit verbarrikadierten Schaufenstern, leerstehende Malls und Industriebrachen. Wer seine Region nicht verlassen hat, arbeitet für Niedriglohn und ohne Krankenversicherung als Parkhauswächter, an der Supermarkt-Kasse oder als Kellner in den Diners.

Fand man früher in den Boomzeiten der Industrie auch ohne Diplom durchaus einen gutbezahlten Job, ist dafür heute im selbsternannten Land der unbegrenzten Möglichkeiten eine gute Bildung unerlässlich. Nach der Finanzkrise 2008 wurden zwar 11,6 Millionen neue Jobs geschaffen – 11,5 Millionen davon gingen jedoch an Bewerber mit hoher Bildung. Das Problem: Jeder zehnte Amerikaner besitzt keinen Schulabschluss, jeder vierte verlässt das College ohne Examensfeier. Laut einer Studie mehrere amerikanischer Universitäten wären bis 2010 rund 145.000 Todesfälle verhindert worden, wenn alle Schulabbrecher ihren Highschool-Abschluss nachgeholt und so die Chance auf ein höheres Einkommen bekommen hätten.

Drogenkrise in epidemischem Ausmaß

Kreditkartenschulden und Existenzängste betreffen jedoch nicht nur die Armen, sondern mehr und mehr auch die Mittelschicht. Viele versuchen, ihre Probleme zu betäuben. Mit verheerenden Folgen. Zwischen 2000 und 2014 hat sich die Zahl der Drogentoten verfünffacht. Nach Angaben der US-Gesundheitsbehörde CDC starben im vergangenen Jahr 71.568 Menschen an einer Überdosis. 2016 waren es noch 67.114 Drogentote gewesen. Damit liegt ihre Zahl weit über derjenigen bei Verkehrsunfällen, Schießereien oder Selbstmorden. Die meisten von ihnen sind zwischen 25 und 54, konsumierten vor allem Opioide wie Heroin, Fentanyl und Tramadol. Und sie kommen aus allen sozialen Schichten. In Gadsden, wo die Regionalpresse von einer „Überdosis-Epidemie“ spricht, sind es Schulabbrecher und College-Anwärter, Arbeitslose und Büroangestellte, Eltern und Großeltern. Nicht selten beginnt ihre „Karriere“ mit Schmerzmitteln und Antidepressiva, für die täglich 650.000 Rezepte ausgestellt werden – so freigiebig und selbstverständlich wie in keinem anderen Land. Dabei ist der Weg zu Heroin über Vicodin gegen Gelenkschmerzen und Xanax gegen Depressionen oft nicht weit.

Forscher prophezeien, dass die Lebenserwartung auch im dritten Jahr in Folge sinken könnte. Im Mai 2018 teilte die WHO mit, dass in China geborene Kinder erstmals in der Geschichte länger bei guter Gesundheit leben als Kinder in den USA. Hält der Trend an, könnte das asiatische Land die USA bald auch bei der allgemeinen Lebenserwartung überholen. Die Politik unterdessen scheint noch keine Lösung parat zu haben. In Donald Trumps Rede zur Lage der Nation Anfang 2018 findet sich kein Wort zur Bildungsmisere, kein Masterplan für die Drogenepidemie oder die Selbstmordrate, die 2014 ein 30-Jahres-Hoch erreichte. „America first“ – zumindest was die Lebenserwartung in Städten wie Gadsden betrifft, sieht es derzeit eher nach „America last“ aus.