Ruhestandsplanung

20.10.2017

„Viele Men­schen pla­nen ihren Urlaub bes­ser als ihren Ruhe­stand“

Mit der Rente beginnt ein völlig neuer Lebensabschnitt. Wer sich darauf nicht vorbereitet, fällt in ein tiefes Loch, sagt Ruhestandscoach Anita Feuersänger.

Frau Feuersänger, viele sehnen den Ruhestand herbei, fallen nach dem letzten Arbeitstag jedoch in ein tiefes Loch. Woran liegt das?

ANITA FEUERSÄNGER: Der Übergang in die nachberufliche Phase bedeutet eine enorme Veränderung im Leben eines Menschen, denn der Beruf ist eine wichtige Säule der Identität. Er gibt uns Sicherheit – zum Beispiel durch Struktur und das Gefühl, dass man dazugehört, Anerkennung bekommt und etwas Sinnvolles macht. Er bietet uns auch Abwechslung, Kontakte, geistige Anregung. Wenn das alles auf einen Schlag wegbricht, kann das aus der Balance bringen. Bei aller Vorfreude auf Freizeit und Freiheit übersehen manche diesen Aspekt.

Mit welchen Gedanken und Sorgen kommen die Menschen, die Ihre Seminare besuchen?

FEUERSÄNGER: Diejenigen, die schon einige Zeit vor dem Übergang kommen, wollen sich oft einfach vorbereiten, weil sie von diesem berühmten „Loch“ gehört oder negative Beispiele in der Bekanntschaft erlebt haben. Häufig kommen Menschen auch erst ein halbes Jahr nach Beginn des Ruhestands. Ich höre dann immer wieder: „Ich hätte nie gedacht, dass ich da ein Problem haben werde.“ Manche klagen über Schlaflosigkeit, Einsamkeit oder sogar Panikattacken. Ein Ingenieur zum Beispiel hatte sich sehr viel vorgenommen und eine ganze Liste angelegt: Eintritt in den Kunstverein, Gartenhaus bauen, Malkurs belegen, einen alten Freund besuchen. Doch letztendlich wusste er nicht, wie er es angehen soll und konnte sich einfach nicht aufraffen, etwas davon umzusetzen.

Ist zu viel Aktionismus ein typischer „Anfängerfehler“?

FEUERSÄNGER: Mitunter ja. Vor allem Menschen, die sich stark über die Arbeit definiert haben, neigen dazu und setzen sich oft sehr unter Druck, die viele Freizeit auszufüllen. Die Balance zu finden zwischen Aktivsein und Entspannung ist ein Prozess, den manche erst lernen müssen. Hilfreich kann es sein, direkt nach dem Ausstieg aus dem Beruf eine Ruhephase einzuplanen und so mit dem Berufsleben bewusst abzuschließen. Zum Beispiel während eines langersehnten Urlaubs. Aber das reicht natürlich nicht.

Sondern?

FEUERSÄNGER: Viele Menschen planen ihren Urlaub besser als ihren Ruhestand. Ich vergleiche das Leben im Ruhestand gern mit einer Bergtour. Da sollte ich auch nicht einfach drauf losstolpern, sondern vorher einiges bedenken: Welcher Weg passt zu mir? Von wo aus starte ich? Welches Ziel habe ich, was ist mir wichtig? Welche Informationen brauche ich auf meinem Weg? Gute Beziehungen kann ich nicht an einem Tag aufbauen. Hobbys und Interessen entwickeln sich nicht von allein. Für finanzielle Sicherheit zu sorgen, braucht wahrscheinlich mehr als zehn Jahre. Meine Seminare in Unternehmen werden meistens für Mitarbeiter angeboten, die bis zu fünf Jahren vor dem Ausscheiden stehen. Erste Gedanken sollte man sich schon ab Mitte 50 machen. Aber generell gilt: lieber spät als gar nicht. Im Idealfall würde ich jedoch nie ohne Vorbereitung losziehen.

Wie kann so eine Vorbereitung aussehen?

FEUERSÄNGER: Die Möglichkeiten sind eigentlich unendlich. Ich empfehle, Aufgaben zu suchen, für die man sich begeistern kann – und diese schon während der Berufstätigkeit auszuprobieren, sich also eine Art vorbereitendes „Parallelprogramm“ aufzubauen. Reisen organisieren, einem Sportverein beitreten, einen Singkreis gründen, sich politisch oder ehrenamtlich engagieren, Vorlesungen an der Uni besuchen oder berufliche Erfahrungen weitergeben – all das stiftet Sinn, stärkt das Selbstwertgefühl und kann einen Ruhestandsschock verhindern. Eine Frau aus meinen Kursen ging als Granny-Aupair in die USA. Mit Kreativität und Fantasie kann jeder etwas finden. Und: Ich strukturiere damit meinen Alltag.

Aber gerade das ist doch sicher mitunter schwer, wenn das Wochenende plötzlich sieben Tage hat. Welche Strategien können helfen?

FEUERSÄNGER: Ja, das ist für manche nicht so einfach. Man schläft lange, geht dann spät zu Bett, der ganze Tagesrhythmus verschiebt sich. Viele sagen, dass es ihnen gut tut, sich morgens trotzdem einen Wecker zu stellen und ihn am Wochenende auszulassen. Das gibt dann ein „Wochenende-Gefühl“. Auch regelmäßige Mahlzeiten geben dem Tag Struktur. Genauso wie feste Verabredungen und Termine. Das Schöne am Ruhestand ist ja, keine Vorgaben mehr zu haben, tun und lassen zu können, was und wann man es will. Und doch zeigt sich immer wieder: Wir Menschen brauchen gewisse Strukturen, der eine mehr, die andere weniger.

Wie jemand den Ruhestand meistert: Spielt da auch die frühere berufliche Position eine Rolle?

FEUERSÄNGER: Ein Manager hat sich mal bei mir beklagt: „Früher hatte ich 80 Leute, die meinen Anweisungen gefolgt sind. Heute schaffe ich es nicht einmal, dass ein einzelner Handwerker macht, was ich will.“ Ich erlebe aber auch Führungskräfte, die sich gleich um einen Vereinsvorstandsposten bemühen und darin aufgehe oder sich ihre Anerkennung beim Marathon oder bei der Gipfelbesteigung holen. Ob Führungskraft oder Angestellter – letztendlich gilt: Je mehr Spaß jemand in seinem Beruf hatte, desto schwerer fällt der Abschied und das Loslassen.

Der Verlust des Kollegenkreises hat da sicher auch seinen Anteil, oder?

FEUERSÄNGER: Auf jeden Fall. Wenn ich meine Teilnehmer frage, was sie am meisten vermissen, ist die häufigste Antwort: meine Kollegen oder Kunden. Auch wenn es gar keine wirklichen Freundschaften waren: Wir sind soziale Wesen und brauchen Kontakte und Begegnungen. Eine Sachbearbeiterin meinte einmal: „Selbst die Kollegin, über die ich mich jeden Tag geärgert habe, fehlt mir. Ich kann abends nicht mehr erzählen, was die sich heute wieder geleistet hat.“

Also sollte man auch sein privates soziales Netz gut pflegen?

FEUERSÄNGER: Absolut. Diejenigen, die sich während ihrer Berufstätigkeit wenig um andere soziale Kontakte gekümmert haben, sind im Ruhestand die, die am meisten leiden. Den Kontakt zu Kollegen zu halten, funktioniert meistens nicht, höchstens zu einzelnen. Daher ist es wichtig, sich frühzeitig bewusst zu machen: Was sind meine wichtigsten Beziehungen? Welche alten Freundschaften will ich wiederbeleben? Welche Kontaktmöglichkeiten gibt es in meiner Umgebung? Vereine, Kirchen, Bürgerzentren, Freizeitgruppen – die Möglichkeiten sind vielfältig. Es erfordert allerdings immer eine Portion Eigeninitiative.

Für viele ist es auch ein Traum, mit seinem Partner alt zu werden. Doch plötzlich ist man 24 Stunden am Tag zusammen.

FEUERSÄNGER: Manche sind 40 Jahre lang verheiratet und Scheidung war nie ein Thema. Doch dann kommt die Rente und es wird nur noch gestritten. Die Tagesstruktur, Neuaufteilung des Haushalts, unausgesprochene Erwartungen, unterschiedliche Bedürfnisse nach Eigenständigkeit, das alles kann natürlich Konflikte auslösen. Oder wenn ein Partner meint, er könne beim andern eingespielte Abläufe optimieren. „Papa ante portas“ lässt grüßen.

Und wie schafft man es, sich nicht irgendwann auf den Keks zu gehen?

FEUERSÄNGER: Da hilft nur reden, sich austauschen. Auch hier: Schon vor dem Ruhestand. Manchmal lasse ich Paare eine Übung machen: Jeder schreibt einen perfekten Tag auf, wie er glaubt, dass der Partner sich ihn vorstellt. Da gibt es so manche Überraschung. Und dann braucht es immer wieder Verständnis für die Bedürfnisse des Partners oder der Partnerin.  Auch im Ruhestand tut es gut, wenn jeder seinen eigenen Bereich hat, auch Zeiten mit anderen verbringt, vielleicht eine eigene Aufgabe besitzt. Man hat sich dann auch wieder mehr zu erzählen. Und diese Zeit bietet natürlich auch die Chance, sich wieder näher zu kommen. Zum Beispiel bei langen Spaziergängen miteinander zu reden, sich neu zu entdecken und vielleicht sogar neu zu verlieben.

Der Ruhestand hält also noch viel für uns bereit?

FEUERSÄNGER: Viel mehr als früher. Heute sind die meisten Menschen, die in den Ruhestand gehen noch sehr fit und gesund, haben noch viele aktive Jahre vor sich. Wenn sie diese Zeit bewusst vorbereiten und gestalten, sich auf Neues einlassen und sich weiterentwickeln, dann kann diese Zeit eine der schönsten und erfülltesten Lebensphasen werden. Ich sage meinen Kunden oft: „Trauen Sie sich, daraus Ihre besten Jahren zu machen.“