Gesundes Altern

26.06.2017

Wohl­auf bis ans Lebens­ende

Länger leben bedeutet nicht automatisch, auch länger krank zu sein. Im Gegenteil: Der medizinische Fortschritt schenkt den Menschen mehr gesunde Jahre.

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Krücken braucht dieses Paar noch nicht. Schwere gesundheitliche Probleme ereilen die Menschen immer später.

Vor ein paar Wochen hatte Prof. Dr. Christian Butter einen ganz besonderen Patienten auf seinem OP-Tisch liegen. Diagnose: Aortenklappen-Stenose, also eine Verengung im Bereich der linken Herzkammer. Er brauchte dringend eine neue Herzklappe. So weit, so gewöhnlich, denn das Implantieren einer künstlichen Herzklappe zählt zu den häufigsten Operationsarten in Deutschland. Das Ungewöhnliche allerdings: Der Patient feierte kurz nach dem Eingriff seinen 106. Geburtstag.

„Das ist natürlich ein Einzelfall“, sagt Butter, Chefkardiologe am Herzzentrum Brandenburg in Bernau. „Aber es verdeutlicht eine Entwicklung, die seit etwa 1990 zu beobachten ist: Ein kontinuierlicher Anstieg von Patienten im höheren Alter, die wir durchaus noch erfolgreich behandeln können.“ Noch vor zehn, zwanzig Jahren, so Butter, hätten Ärzte Menschen mit Herzinsuffizienz oder einem Klappenfehler ab einem gewissen Alter gar nicht mehr angefasst. „Heute hingegen können wir auch Patienten mit Mitte 80 oder gar 90 durchaus noch therapieren und ihr Leben so um einige Jahre verlängern.“

Große Fortschritte bei der Behandlung von Herzleiden

Dass die Lebenserwartung der Deutschen steigt und Neugeborene inzwischen durchschnittlich  rund 90 Jahre vor sich haben, ist in erheblichem Maße dem medizinischen Fortschritt zu verdanken. Vor allem die sogenannte „kardiovaskuläre Revolution“, die in den späten 1960er-Jahren ihren Anfang nahm, machte die früher geltende Gleichung „Herzprobleme = Tod“ in vielen Fällen ungültig. Neue Medikamente und Therapien kamen zum Einsatz und wurden kontinuierlich weiterentwickelt. 2001 erfolgte die erste Klappenimplantation; heute sind kathetergestützte Verfahren in deutschen Herzkliniken Routine.

Auch Sterbestatistiken spiegeln den Triumph der modernen Medizin wider. Zwar sind auch heute noch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Erkrankungen der Atemwege die drei häufigsten Todesursachen in Deutschland, allerdings führen derartige Diagnosen laut Statistischem Bundesamt immer später im Leben zum Tod. So waren es 1980 Vertreter der Altersgruppe 75 bis 85, die mit einem Anteil von 21 Prozent am häufigsten an den Folgen einer Kreislauferkrankung wie Herzinfarkt oder Schlaganfall starben. Bereits 35 Jahre später zeigt sich eine deutliche Verschiebung: Gut 47 Prozent aller Sterbefälle, die 2015 durch eine Kreislauferkrankung verursacht wurden, betrafen Menschen, die älter waren als 85 Jahre. 1980 lag deren Anteil bei nur knapp 20 Prozent. In anderen Altersgruppen sank die Sterblichkeit – bei den 70- bis 75-Jährigen zum Beispiel um mehr als die Hälfte.

Zahl der gesunden Lebensjahre steigt

Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich bei Krebserkrankungen ab. Während der Anteil der Krebstoten zwischen 1980 und 2015 über alle Altersgruppen hinweg relativ stabil blieb, ja zum Teil sogar zurückging, zeigte sich allein bei den Über-85-Jährigen eine signifikante Veränderung: Ihr Anteil stieg von sieben auf 19 Prozent und somit um fast das Dreifache.

Könnten solche Zahlen nicht aber auch bedeuten, dass sich der krankheitsbedingte Leidensweg parallel zur steigenden Lebenserwartung ebenfalls ausdehnt? Heißt länger leben also auch länger krank sein? Nein, sagt Roland Rau, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock: „Der Anstieg der Lebenserwartung geht nicht einher mit einer längeren Krankheitsphase. Die Menschen bleiben zugleich immer länger gesund.“ Um dies zu belegen, wertete der Demograf unter anderem Daten der europäischen Haushaltsbefragung „EUSILC“ aus. Ergebnis: Zwischen 2005 und 2013 gewannen 65-jährige Frauen 2,8 gesunde Lebensjahre hinzu, ihre verbleibende Lebenserwartung stieg in der Zeit „nur“ um 0,6 Jahre. Bei den Männern waren es immerhin 2,3 Jahre gesunde Lebensjahre mehr – bei einem Anstieg der Lebenserwartung von einem Jahr.

Potenzial der Medizin ist noch nicht ausgereizt

„Wir verlängern nicht das Leiden, sondern fügen vermehrt lebenswerte Jahre hinzu“, sagt auch Herzspezialist Butter. So könne ein Patient nach einer Herzklappen-OP heute genauso alt werden wie ein gesunder Mensch. Und das bei nicht minder guter Lebensqualität, denn durch Medikamente und Therapien bekomme man heutzutage Symptome immer besser in den Griff. Auch in Sachen Prävention werde die Medizin immer wirkungsvoller. CT, MRT, Echokardiografie oder die LifeVest, ein am Körper getragener Defibrillator, der den plötzlichen Herztod verhindern kann, tragen immens dazu dabei, Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. „Und was den medizinischen Fortschritt betrifft, ist noch viel Luft nach oben“, so der Kardiologe. Verbesserte Medikation und Operationstechniken, Stammzellenforschung und das fieberhafte Forschen in Sachen Krebsbehandlung könnten in Zukunft den „Point of no return“, den Punkt also, an dem auch den Ärzten die Hände gebunden sind, noch weiter hinauszögern.

Professor Butters Ü100-Patienten geht es nach seiner OP mittlerweile auch wieder blendend. „Sein Ziel war es, mindestens 107 zu werden, so alt wie seine Schwester. Aber ich bin guter Dinge, dass er noch ein paar Jährchen mehr schafft“, sagt der Mediziner optimistisch und weist auf einen weiteren wichtigen Aspekt hin: Stimmt die Lebensweise nicht, kann auch die beste Medizin letztendlich keine Wunder vollbringen. Viel Bewegung, gesunde Ernährung, keine Zigarette, dafür aber reichlich Lebensfreude – auch das hat seinem Patienten zu einem sehr langen Leben verholfen.