Resilienz

09.06.2021

„Man darf sich nicht ver­krie­chen“

Älterwerden ist mit der Corona-Pandemie vergleichbar, sagt Altersforscherin Sabine Schröder-Kunz. Beides bedeutet Einschränkungen. Auf das Alter könne man sich aber besser vorbereiten. Wie, das verrät sie im Interview.

Frau Schröder-Kunz, seit 2020 begleitet uns die Corona-Krise. Wie lässt sich an diesem Beispiel der Begriff der „Krise“ erklären? Was passiert hier mit uns?

Sabine Schröder-Kunz: Krise bedeutet Wende. Eine Veränderung, auf die wir so nicht vorbereitet waren. Krisen sind Konfliktsituationen, die Angst hervorrufen, weil wir nicht wirklich wissen, was uns bevorsteht. Das zeigt die Corona-Pandemie idealtypisch: Selbst, wenn wir gar nicht so arg betroffen sind, nicht erkrankt oder nicht in der wirtschaftlichen Existenz gefährdet sind – wir sind stark verunsichert. Was wir bislang gewohnt waren, wird auf den Kopf gestellt, die Harmonie geht flöten. Das macht uns verzweifelt, traurig oder auch wütend.

In Ihrem neuen Buch „Älterwerden in Krisenzeiten“ verzahnen Sie die Corona-Krise mit den Krisen, die das Älterwerden mit sich bringen kann. Was haben denn beide Situationen gemeinsam?

Schröder-Kunz: Beide machen uns unsere Verletzlichkeit bewusst. Wir erleben Einschränkungen, müssen auf manches, was uns lieb ist, verzichten. Beide führen uns vor Augen, dass wir endlich sind. Das macht oft große Angst. Aber es gibt natürlich auch Unterschiede.

Welche?

Schröder-Kunz: Corona kommt von außen, wirkt zufällig. Das Älterwerden hingegen ist ein natürlicher Prozess, der unweigerlich eintritt. Der Beginn des Ruhestands, der Verlust geliebter Menschen, der körperliche Abbau, das äußerliche Altern: Im Grunde wissen wir, dass das irgendwann kommt. Und doch sind wir oft schlecht darauf vorbereitet.

Kann man das denn? Sich vorbereiten oder Krisen im Alter sogar umschiffen?

Schröder-Kunz: Durchaus, man kann Krisen vorbeugen. Gutes Älterwerden beruht für mich auf fünf Säulen. Dabei geht es erstens um den Körper, für den eine gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung wichtig sind. Es geht zweitens um unseren Kopf. Offenheit und lebenslanges Lernen sind hier wichtige Punkte. Drittens brauchen wir soziale Kontakte. Sie sind ganz entscheidend für unsere Entwicklung und ein gesundes Leben. Die vierte Säule ist das Tätigsein. Der Mensch ist ein tätiges Wesen und braucht Aufgaben und Arbeit – auch im Alter. Wichtig ist schließlich fünftens die innere Haltung. Es hilft beispielsweise, wenn wir optimistisch, offen, geduldig und gelassen gestimmt sind. Bilden diese fünf Säulen eine solide Einheit, helfen sie uns in Krisen. Manche treten dann vielleicht erst gar nicht auf, manche Veränderungen nehmen dann nicht unbedingt einen krisenhaften Verlauf. Wir sollten uns mit dem Alter befassen – wenn wir alt sind, aber auch schon davor.

In der Corona-Zeit bieten Sie eine Telefonsprechstunde für ältere Menschen an. Was haben Sie dabei über deren Umgang mit Krisen gelernt?

Schröder-Kunz: Sorgen, Ängste und Einsamkeit sind natürlich immer wieder ein Thema. Andere, wie kürzlich eine 70-jährige Frau, erzählen mir aber auch, wie sie ihren Alltag aktiv gestalten und versuchen, etwas für andere zu tun. Ein wunderbares Beispiel, wie man Krisen angehen kann, ist der britische Weltkriegsveteran Tom Moore. Mit fast 100 Jahren initiierte dieser während der Pandemie eine riesige Spendenaktion. So etwas Großes muss es ja nicht gleich sein. Aber es zeigt, dass man mit Einfallsreichtum einiges erreichen kann. Man darf sich nicht verkriechen. Wenn wir aktiv werden, erleben wir uns nicht mehr als bloß passiv, gar als Opfer. Das gilt für Corona wie fürs Altern.

Aktuell werden Menschen ab 60 pauschal als „Risikogruppe“ eingestuft. Glauben Sie, dass dies einem positiven Bild vom Alter schadet?

Schröder-Kunz: Betroffen sind Ältere natürlich schon, und das in manchen Bereichen stärker als die Jüngeren. Ich meine nicht nur die schwierigen Krankheitsverläufe. Auch Dinge wie Isolation oder Einsamkeit sind bei ihnen wahrscheinlich öfter zu finden. Aber: Ältere sind nicht per se eine verletzliche Risikogruppe. Sie sind heute so gesund, stark und zufrieden wie nie zuvor. Auch die Corona-Krise bewältigen viele auf erstaunliche Weise gelassen und kraftvoll. Ältere zu pauschalisieren, ist Unsinn. Wir müssen immer beides sehen. Gefahren, aber eben auch Potenziale.

Das Alter ist also keine einzige Langzeitkrise?

Schröder-Kunz: Auf keinen Fall! Wenn wir das Alter nur als Verlust sehen, entgeht uns Wesentliches. Älterwerden ist nicht nur natürlich, sondern auch ein Geschenk. Verluste wird es geben, aber auch viele Gewinne. Das Alter ist die Zeit der Reife und Erfahrung. Und damit können und wollen Ältere sich einbringen. Sich um die Enkel kümmern, sich für Kultur oder die Natur engagieren – Aufgaben gibt es genug. Die Kraft der Erfahrung nützt den Älteren aber auch selbst: Sie ist die solide Basis, um Krisen besser bewältigen zu können.

Das heißt, man ist im Alter besser gewappnet?

Schröder-Kunz: Im Grunde ja. Man hat schon einiges hinter sich, hat Krisen durchlebt, durchgestanden. In gewisser Weise sind Ältere weniger krisenanfällig. Das muss nicht so sein, und wahrscheinlich empfinden es auch nicht alle so. Aber der bisherige Erfahrungsschatz ist wichtig und fördert Resilienz, das heißt die psychische Widerstandskraft. Hier geht es darum, trotz der schweren Belastung, die durch Krisen entsteht, eine innere Haltung aufzuzeigen, die besagt: Ich schaffe das! Ich akzeptiere, was sich nicht verändern lässt! Widerstandskraft besitze ich, wenn ich bereit bin, die unvermeidbare Veränderung zu akzeptieren und mich dem Neuen zuzuwenden.

Gar nicht so leicht, bei dem schlechten Image, dass das Alter oft noch immer hat.

Schröder-Kunz: Ja, negative Altersbilder sind durchaus geeignet, Krisen heraufzubeschwören. Wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Jugend, Leistung, Schönheit: Wenn wir nicht umdenken und uns nicht früh genug von solchen „Idealen“ lösen, bekommen wir irgendwann die Quittung. Leistungsfähigkeit oder Produktivität, aber auch Schönheit können doch neu definiert werden! Es gibt keinen Grund, sich für das Alter zu schämen. Im Gegenteil, wir können stolz sein, unser Leben gestaltet zu haben. Lässt man sein Altern nicht von falschen Altersbildern versauen, stellt sich oft eine überraschende Zufriedenheit ein. Und nebenbei: Zufriedene Ältere können „jünger“ aussehen als verdrossene 20-Jährige.

Könnte die Corona-Krise hier vielleicht auch etwas Positives bewirken?  

Schröder-Kunz: Ich hoffe es. Manche jungen und älteren Menschen sind näher zusammengerückt. Die Generationensolidarität war verstärkt Thema; vielleicht bleibt davon etwas und wir bauen sie aus. Meine Hoffnung ist, dass viele Menschen über die Alten neu nachgedacht und neue Einblicke gewonnen haben. Dass sie die Älteren eben nicht als Risikogruppe sehen, sondern als wichtigen Teil unserer Gesellschaft.

Glauben Sie, dass uns die Corona-Krise auf spätere Krisen im Leben vorbereiten kann?

Schröder-Kunz: Jede Krise ist ein „Übungsfeld“. Allerdings haben wir ja die Corona-Krise ganz unterschiedlich erlebt. Für manche ist sie zur Katastrophe geworden, andere waren persönlich weniger schwer betroffen. Wie auch immer: Wir werden etwas daraus lernen. Vielleicht bekommen wir ein besseres Bewusstsein dafür, was wirklich wichtig ist: gute Beziehungen, Entschleunigung, eine gelungene Balance im Leben. Bisweilen wurde Verzicht auch als Gewinn erfahren. Vielleicht tun wir die Dinge, die wir bis vor der Krise getan haben, nun etwas bewusster. Ob das der Urlaub ist, in den man verreist, oder die persönlichen Beziehungen, die wir pflegen. Viele haben wohl auch zum ersten Mal Bewältigungsstrategien entwickelt, die ihnen bei zukünftigen Krisen helfen werden. Man nimmt immer etwas mit, wird quasi gezwungen, sich weiterzuentwickeln. Ich weiß das aus eigener Erfahrung.

Was ist passiert?

Schröder-Kunz: Die schlimmste Krise meines Lebens war eine bösartige Tumorerkrankung mit 27 Jahren. Ein bisschen war das so wie bei den Krisen, die Menschen beim Älterwerden spüren. Der Körper funktioniert nicht mehr so, wie man will. Es gab aber auch viele schöne Momente. Meine Familie war für mich da und ich habe viel über den Sinn und Unsinn meines Lebens nachgedacht. Im Nachhinein würde ich sagen, dass diese Krise für mich ganz wichtig und entscheidend war. Sie hat meine Identität erweitert und ich profitiere noch heute – fast 30 Jahre später – davon.


„Älterwerden in Krisenzeiten“

© Springer Verlag

Mit ihrem Buch „Älterwerden in Krisenzeiten“ spricht Altersforscherin Sabine Schröder-Kunz Menschen an, die sich nicht nur mit einer Krise wie der Corona-Pandemie, sondern auch mit dem Älterwerden in unserer Gesellschaft auseinandersetzen möchten. Wie können Geduld, Gelassenheit und Hoffnung sowie die psychische Widerstandskraft gestärkt werden? Inwieweit können Belastungen und Schmerz als Teil des Lebens verstanden werden? Warum gerade eine Krise wie die Corona-Pandemie eine Chance im Älterwerden sein kann, zeigt die Autorin mit vielen Beispielen und Denkanstößen auf. Das Buch ist im Springer Verlag erschienen und kostet 19,99 Euro.