Alternsgerechte Arbeit

22.12.2016

„Wir brau­chen ein Umden­ken“

Firmen sollten das Potenzial älterer Mitarbeiter stärker nutzen, fordert Personalexperte Rudolf Kast. Fördermöglichkeiten gebe es viele – und sie setzten nicht erst zum Karriereende an.

Herr Kast, der demografische Wandel ist in vollem Gange. Was bedeutet das für die Arbeitswelt?

RUDOLF KAST: Unsere Gesellschaft altert, damit steigt natürlich auch das Durchschnittsalter der Belegschaften. Schon heute haben wir in der Mehrheit der Betriebe einen Altersdurchschnitt von über 40 Jahren. Das gilt über alle Branchen hinweg. Bis zum Jahr 2030 werden altersbedingt 6,5 Millionen Fachkräfte aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden.

Betrachten Sie diese Entwicklung mit Sorge?

KAST: Überhaupt nicht. Ich sehe die demografische Entwicklung als Chance. Mehr denn je fallen heute biologisches und kalendarisches Alter auseinander. Die Leute fühlen sich im Schnitt zehn Jahre jünger als sie sind. Das hängt auch mit unserer heutigen Arbeitswelt zusammen. Gesundheitsförderde Maßnahmen werden angeboten, Flexibilität und Mobilität, die Fähigkeit zur Veränderung und zum Lernen werden von den Beschäftigten erwartet und eingefordert. Das hält jung. Insofern ist der Mensch, der heute 50 ist, nicht mit einem Gleichaltrigen von vor 20 Jahren zu vergleichen.

Das Bild vom leistungsschwachen alten Arbeitnehmer ist also ein falsches?

KAST: Auf jeden Fall. Die Vorstellung ist jedoch in den Köpfen vieler Entscheider immer noch fest verankert. Wir brauchen hier ein grundlegendes Umdenken, einen Paradigmenwechsel, weg vom „Jugendwahn“.

Könnten Ältere auch dabei helfen, den Fachkräftemangel zu lindern?

KAST: Ja, neben dem Arbeitspotenzial von Zuwanderern und Frauen könnten vor allem Ältere etwas den Druck aus dem Arbeitsmarkt nehmen. Unternehmen sind einfach darauf angewiesen, ältere Beschäftigte länger im Job zu behalten. Dafür müssen sie aber auch einiges tun.

Was genau?

KAST: Wir brauchen in erster Linie eine „alternsgerechte“ Unternehmensentwicklung und Personalarbeit. Das „n“ macht hier den Unterschied. „Alternsgerecht“ bedeutet, dass wir den gesamten Beschäftigungszyklus von Mitarbeitern im Fokus haben – von der Einstellung als Auszubildender oder Fachkraft bis hin zum potenziellen Ende der Beschäftigung und auch darüber hinaus.

Es geht also nicht nur um „Schonarbeitsplätze“ für Ältere?

KAST: Nein, nur den Blick auf „altersgerechte“ Maßnahmen zu richten, wäre zu kurz gedacht. Natürlich brauchen wir Alternativen für einen 60-jährigen Fliesenleger, der der körperlichen Anstrengung nicht mehr gewachsen ist. Aber generell müssen wir früher ansetzen und Arbeitsbedingungen so gestalten, dass Beschäftigte über den Arbeitszyklus hinweg geistig und körperlich fit bleiben – und so dem Unternehmen länger und besser erhalten bleiben.

Und wie kann solch eine „alternsgerechte“ Arbeit in der Praxis aussehen?

KAST: Die größte Wirkung kann in drei Handlungsfelder erzielt werden: Flexibilisierung von Arbeitszeiten, lebenslanges Lernen und Gesundheitsförderung. Wer da nichts tut, legt die Axt an die Wurzeln des Unternehmens. Das geht überhaupt nicht mehr. Man muss die älter werdende Belegschaft mitnehmen.

Aber sind Ältere denn überhaupt noch in der Lage, zu lernen?

KAST: Unzählige Studien haben längst bewiesen, dass der Mensch ein Leben lang lernen kann. Eine wichtige Rolle spielt das kristalline Wissen, also das Erfahrungswissen, das durch spezielle Lerntrainings aktiviert werden kann. Ich bin fest davon überzeugt: Ältere können genauso schnell und so viel lernen wie Jüngere. Auch das Instrument „Talentmanagement“ sollte daher nicht nur für Mitarbeiter unter 35 Jahren Anwendung finden. Denn Talente haben wir in allen Generationen und Investitionen lohnen sich daher altersübergreifend.

Welche Bedeutung kommt dabei altersgemischte Teams zu?

KAST: Eine absolut wertvolle. Die Jüngeren bringen das neueste Fachwissen mit, die Älteren ihre Erfahrung und ihr Wissen um Prozesse und Arbeitsabläufe. Ein wunderbares Instrument ist zum Beispiel das Reverse Mentoring, bei dem Jüngere mit ihrem aktuellen Fachwissen an die Arbeitsplätze der Älteren gehen und diese ganz praktisch schulen. Normalerweise kennt man das ja eher anders herum: Ältere stehen als Mentor bei der Einarbeitung zur Verfügung. Die umgekehrte Variante wird jedoch sicher an Bedeutung gewinnen.

Und was können flexiblere Arbeitszeiten bewirken?

KAST: Die Arbeitsanforderungen sind gestiegen. Wenn man das als Beschäftigter aushalten und die Lebensarbeitszeit verlängern will, muss man auch mal Ruhepausen einlegen können. Wir brauchen verstärkt lebensphasenorientierte Arbeitszeitmodelle. In zehn Prozent der Unternehmen gibt es diese schon. Es muss Phasen geben, in denen die Beschäftigten länger arbeiten und Zeit ansammeln, um dann beispielsweise eine mehrmonatige Auszeit zu nehmen und sich zu regenerieren.

Ließe sich so auch der körperliche Verschleiß minimieren? Gesundheitliche Probleme sind schließlich einer der Hauptgründe für das Ausscheiden aus der Arbeitswelt.

KAST: Ja. Und zur Prävention gehören auch betriebliche Angebote wie Sportgruppen, Rückengymnastik, Ernährungskurse und verschiedene Gesundheitsuntersuchungen. Am wichtigsten ist jedoch die Arbeitsorganisation. Das heißt: gesundheitsorientierte Schichtsysteme und gute Bedingungen im Arbeitsumfeld. Wie lassen sich beispielsweise Lärm, Hitze oder Zugluft verringern oder vermeiden? Ist die Arbeit abwechslungsreich, ohne eine zu einseitige Belastung?

Arbeit darf also nicht zu monoton sein?

KAST: Ich war selbst früher einmal Personalleiter in einem Produktionsunternehmen. Dort hat ein Mitarbeiter in einer Produktionslinie statt nur einen sieben bis acht Arbeitsschritte erlernt. Das bringt eine ganz andere Flexibilität mit sich, was wiederum Auswirkung auf die Flexibilität im Kopf hat – und Spaß und Freude an der Arbeit zurückbringt.

Sollte man Ihrer Meinung nach auch Ambitionen fördern, über das Renteneintrittsalter hinaus zu arbeiten?

KAST: Ja, unbedingt. Durch den Gesetzgeber wird dies mit der in diesem Jahr eingeführten Flexirente ja unterstützt. Auch gibt es schon eine Reihe von Unternehmen, die das in großem Stil fördern. Nehmen wir das Beispiel Bosch. Das Unternehmen hat einen Pool mit rund 700 ehemaligen Fach- und Führungskräften, die sich bereit erklärt haben, über die Rente hinaus zu arbeiten und für Projekte zur Verfügung zu stehen. Zum Beispiel als Verstärkung bei zusätzlichem Arbeitsaufkommen oder als „Stellvertreter auf Zeit“, wenn ein jüngerer Kollege kurzfristig ausfällt. Der Älteste in dem Programm ist übrigens 77 Jahre.

Sie selbst sind jetzt 63 Jahre. Ist der Ruhestand schon ein Thema?

KAST: Ich habe vor, bis 70 zu arbeiten. Oder sogar länger. Ich liebe das, was ich tue. Ich gehe darin auf. Mein Beruf ist für mich kein Job, sondern meine Berufung. Das ist übrigens auch eine Voraussetzung, um länger arbeiten zu können und zu wollen.