Monotonie und Eintönigkeit

21.02.2023

Wie Lan­ge­weile das Leben ver­kürzt

Chronische Langeweile ist nicht nur unangenehm, sondern auch ein Gesundheitsrisiko. Evolutionsgeschichtlich ist das Gefühl aber durchaus sinnvoll: als Anstoß zur Selbstreflexion.

© Ashkan Forouzani / Unsplash

Menschen, die das Leben nur noch als langweilig ansehen und keinen Spaß mehr empfinden, sind anfälliger für Drogen- und Alkoholmissbrauch. 

Wie es sich anfühlt, 30 oder gar 60 Minuten auf einen Zug zu warten, weiß wohl jeder, der regelmäßig Bahn fährt. Und vermutlich auch, wie quälend lang die Wartezeit sein kann, wenn es einfach nichts zu tun gibt: Smartphone-Akku fast alle, kein Buch dabei und auch kein Begleiter für einen kurzen Schnack. Unruhe und Missmut steigen auf. Die Gedanken kreisen nur um ein einziges Wort: Langweilig!

Für die Forschung ist der Gemütszustand der Langeweile indes alles andere als öde. So widmen sich Psychologen und Medizinerinnen heute nicht mehr nur Gefühlen wie Angst oder Liebe, sondern ergründen auch zunehmend, welche Folgen es hat, wenn Menschen Eintönigkeit und einen Mangel an Sinnhaftigkeit empfinden. Denn Langeweile begegnet uns nicht nur als flüchtige Erscheinung auf dem Bahnsteig, im Wartezimmer oder an der Supermarktkasse. Sie kann auch hartnäckig und chronisch sein, weil zum Beispiel der Job unterfordert oder Rentner die viele freie Zeit im Ruhestand nicht zu gestalten vermögen. In solchen Fällen kann Langeweile unsere Gesundheit gefährden. Im beruflichen Kontext spricht man häufig vom sogenannten Boreout. Und der ist nicht zu unterschätzen.

Langeweile fördert ungesunden Lebensstil

Ob Depressionen, Essstörungen oder Suchterkrankungen: Zahlreiche Studien belegen, dass vieles, was das Leben verkürzt, im Zusammenhang mit chronischer Langeweile steht. Die bisher wohl eindrücklichste Untersuchung dazu stammt aus Großbritannien. Zwischen 1985 und 1988 wurden über 7500 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in regelmäßigen Abständen gefragt, wie ihr Lebensstil aussieht und wie häufig und intensiv sie sich in ihrem Berufs- und Privatleben langweilen. Nach 25 Jahren holten die Forscher die Daten wieder hervor und stellten erstaunt fest: An Redewendungen wie „sich zu Tode langweilen“ oder „vor Langeweile sterben“ scheint durchaus etwas dran zu sein. Denn im Vergleich zu all jenen, die das Gefühl der Monotonie nicht oder kaum kannten, wies die Gruppe der hochgradig Gelangweilten 40 Prozent mehr Todesfälle auf. Zudem waren diese 2,5 Mal häufiger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Schlaganfall verstorben.

Langeweile wirkt natürlich nur indirekt. „Menschen, die nichts mit sich anzufangen wissen, greifen häufiger zu Alkohol und Nikotin“, erklärt Studienautor Martin Shipley. „Dieser Lebenswandel beeinträchtigt die Gesundheit und sorgt dafür, dass viele früher sterben.“ Auch Erhebungen hierzulande bestätigen das. So tranken 2020 rund 40 Prozent der Deutschen mehr Alkohol als vor der Corona-Pandemie. Die Hauptgründe: mehr Zeit und mehr Langeweile. Dass der Raucheranteil zwischen 2019 und 2021 von 27 auf 31 Prozent gestiegen ist, dürfte ähnliche Ursachen haben. So gibt in einer Umfrage jeder fünfte Raucher an, aus purer Langeweile zur Zigarette zu greifen.

Langeweile erhöht den Stresspegel

Doch warum eigentlich? Laut der Forschung liegt es daran, dass Langeweile unsere biochemischen Prozesse aus dem Gleichgewicht bringt. Wenn die Zeit ohne Abwechslung unerträglich erscheint, reagiert der Körper: Er schüttet verstärkt das Stresshormon Cortisol aus, gleichzeitig entwickelt sich der Glücksbotenstoff Dopamin mehr und mehr zur Mangelware. Um den Stresspegel zu senken und das Glückgefühl zu steigern, versuchen wir, der Langeweile so schnell wie möglich zu entfliehen und gieren nach neuen Reizen.

Dabei ist Langeweile ein durchaus sinnvolles Gefühl, das in seiner Funktion evolutionär sehr dem Schmerz ähnelt. Denn beide Empfindungen warnen vor Gefahr. Die Ödnis immer nur zu übertünchen, sei daher ein Fehler, sagt der renommierte Langeweile-Forscher John Eastwood. Ohne das unangenehme Gefühl des Stillstands würden wir nämlich permanent auf der Stelle treten und nicht merken, dass in unserem Leben etwas fehlt. „Langeweile signalisiert: Wir müssen etwas ändern“, sagt der kanadische Psychologe. Sie fordert uns auf, uns zu hinterfragen.

Das Gehirn freut sich über Pausen

„Gibt es einen anderen und für mich besseren Ort, an dem ich gerade sein könnte? Welche bedeutungsvollere Aufgabe könnte ich momentan nachgehen? Das wären gelungene Reaktionen auf Langeweile.“ Nicht durchhalten, sondern den eintönigen Job an den Nagel hängen. Nicht stundenlang aufs Handy starren, sondern zum Sport gehen. Keine Dosensuppen mehr öffnen, sondern frisch kochen. Wie Rückenschmerzen, die uns nach langem Sitzen zum Aufstehen animieren, will Langeweile zu Richtungswechsel im Leben ermuntern.

Wer mal wieder auf einen verspäteten Zug wartet, sollte übrigens an J.K. Rowling denken. Der britischen Schriftstellerin ging es an einem Tag im Jahr 1990 nämlich genauso. Ewig war sie zurück nach London unterwegs. Statt frustriert zu sein, ließ Rowling ihre Gedanken schweifen. Bei der Ankunft war das Ergebnis ihrer Tagträume fertig. Der erste „Harry Potter“-Roman. Studien belegen, was Rowling passiert ist: Nutzt man vermeintlich langweilige Situationen, um in sich zu gehen, über Probleme zu sinnieren und seine Umgebung zu beobachten, werden Kreativität, Konzentration und Gedächtnis gefördert. Kurz: Das Gehirn langweilt sich gern mal und bleibt durch reizarme Pausen jung und aktiv.