„Es wird immer mehr Menschen geben, die 110 oder sogar 115 werden“
Die Zahl der über 100-Jährigen nimmt stetig zu. Eine große Errungenschaft, findet Psychologie-Professorin Daniela Jopp. Auch weil es den Hochaltrigen besser geht denn je.
Prof. Dr. Daniela Jopp ist seit 2014 Professorin für Psychologie an der Universität Lausanne. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist seit vielen Jahren die Erforschung der Lebensqualität von Hundertjährigen.
Frau Jopp, Josefine Ollmann aus Schleswig-Holstein ist der aktuell älteste noch lebende Mensch Deutschlands und mit ihren 112 Jahren noch eine Ausnahme. Was denken Sie: Wird ein solcher Altersrekord in Zukunft zum Normalfall?
Daniela Jopp: Natürlich muss man hier die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie abwarten. Aber grundsätzlich deutet Vieles darauf hin, dass der Trend zum sehr, sehr hohen Alter steigen wird. Im Jahr 2000 gab es knapp 6.000 Menschen in Deutschland, die 100 Jahre oder älter waren – 2019 zählte man mit rund 16.000 schon fast das Dreifache.
Ein unglaublicher Anstieg.
Jopp: Absolut. Unter den alten Personen sind die 100-Jährigen die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe. Und aus unserer Forschung wissen wir, dass diese Zunahme vor allem in den letzten fünf Jahren stark an Fahrt aufgenommen hat. Jedes zweite im Jahr 2000 oder danach geborene Kind hat eine 50-prozentige Chance, 100 oder älter zu werden. Aus meiner Sicht ist das eine unglaubliche Errungenschaft unserer kulturellen Leistung und des medizinischen Fortschritts.
Werden in Deutschland also künftig mehr Menschen 120 oder gar 130 Jahre alt?
Jopp: Das bezweifle ich. Es wird immer mehr Menschen geben, die 110 oder sogar 115 werden. Aber danach kommt dann wohl nicht mehr viel. Die Französin Jeanne Calment, die älteste dokumentierte Person, ist 1997 verstorben und bisher hat niemand ihr Alter von 122 Jahren übertroffen. Es scheint, dass der Mensch doch ein gewisses „Haltbarkeitsdatum“ besitzt.
„Ein Großteil der individuellen Unterschiede bei der Lebenserwartung ist auf den Lebensstil zurückzuführen.“
Frau Ollmann hat zwar eine leichte Demenz, nimmt jedoch kaum Medikamente und lebte bis sie 102 war in ihrer eigenen Wohnung. Wie schafft man das?
Jopp: Untersuchungen aus den USA haben gezeigt, dass es hier wohl drei Gruppen von Menschen gibt. Wahrscheinlich gehört Frau Ollmann zu den „Delayers“, Personen also, die Erkrankungen viel später bekommen als die Normalbevölkerung. So ist bei über 100-Jährigen zu beobachten, dass Gebrechen, die normalerweise Menschen um die 80 treffen, bei ihnen um mindestens zehn Jahre verzögert auftreten. Die Gruppe der „Escapers“ bekommt die Krankheiten dagegen erst gar nicht. Die „Survivors“ schließlich haben zwar Erkrankungen – werden aber trotzdem sehr, sehr alt. Offensichtlich gibt es auf genetischer Ebene Faktoren, die extreme Langlebigkeit begünstigen.
Aber Ernährung, Bewegung, Alkohol- oder Nikotinkonsum spielen doch sicher auch eine Rolle, oder?
Jopp: Auf jeden Fall, ein Großteil der individuellen Unterschiede bei der Lebenserwartung ist auf den Lebensstil zurückzuführen ist. Daher sollten wir viel mehr beobachten, wie unsere eigenen Eltern und Großeltern, die uns genetisch ähnlich sind, altern. Hier kann man viel für die eigene Lebensweise lernen. Also welches Verhalten man übernehmen sollte und welches eher nicht.
In Ihrer „Heidelberger Hundertjährigen Studie“ haben Sie untersucht, wie es den Hochaltrigen gesundheitlich geht. Die meisten würden sicher spontan sagen: schlecht. Stimmt das?
Jopp: Natürlich treten ab etwa dem 80. Lebensjahr häufig chronische Erkrankungen auf. Richtung 100 verstärkt sich das oft noch einmal deutlich. Personen leiden dann im Durchschnitt unter vier bis fünf chronischen Krankheiten. Vor allem an Hör- und Sehproblemen, Mobilitätsproblemen, Gelenkerkrankungen sowie kardiovaskulären Erkrankungen. Diese Liste zeigt aber etwas Interessantes: Die 100-Jährigen haben wenige Krankheiten, die – wie zum Beispiel Krebs – potenziell tödlich verlaufen. Selbst der häufig vorkommende Bluthochdruck ist im hohen Alter für das Wohlbefinden eher vorteilhaft und führt zu einer höheren Lebenserwartung.
Studien zeigen, dass nicht nur die Lebenserwartung steigt, sondern auch die Zahl der gesunden Lebensjahre im Alter. Trifft dies auch auf die 100-Jährigen zu?
Jopp: Ja, die Zeit, die mit Krankheiten zugebracht wird, hat sich auch hier deutlich verringert. Unsere Heidelberger Studie haben wir 2001 und dann noch einmal 2011/12 durchgeführt und konnten dabei zum Beispiel hinsichtlich der kognitiven Gesundheit Erstaunliches feststellen: 2001 hatten 40 Prozent der 100-Jährigen so gut wie keine geistigen Einschränkungen. Zehn Jahre später waren es schon fast 50 Prozent. Gibt es kognitive Probleme, dann sind diese bei 30 Prozent jedoch lediglich leicht bis moderat. Nur 20 Prozent sind stark eingeschränkt.
„Nur ein sehr geringer Anteil der 100-Jährigen bewertet die Gesundheit subjektiv als sehr schlecht.“
Gilt das auch für die körperliche Gesundheit?
Jopp: Auf jeden Fall. Nur ein sehr geringer Anteil der 100-Jährigen bewertet die Gesundheit subjektiv als sehr schlecht. Ein Drittel empfinden diese als moderat, die Hälfte sogar als gut. Und fast jeder Zehnte sagt, dass er sich eigentlich topfit fühlt.
Die 100-Jährigen von heute sind also in ihrer Lebensführung selbständiger?
Jopp: Telefonieren, Mahlzeiten zubereiten, sich um sein Aussehen kümmern oder Geldangelegenheiten regeln – das schaffen 100-Jährige heute besser als noch vor ein paar Jahren. Einerseits liegt das an der besseren Gesundheit, andererseits aber auch am stärkeren Einsatz technischer Unterstützung. Wie auch immer, zu denken, alle 100-Jährigen hätten die höchste Pflegestufe und ein „Demenz-Tsunami“ käme auf uns zu, ist ein Irrglaube. So haben unsere Forschungen in Deutschland und den USA gezeigt, dass 50 bis 70 Prozent von ihnen noch in Privathaushalten leben. Häufig zwar mit Unterstützung, aber dennoch relativ unabhängig.
Trotzdem verliert man doch sicher irgendwann den Lebensmut, wenn man zum Beispiel nicht mehr richtig sehen oder gehen kann.
Jopp: Über 80 Prozent der 100-Jährige, mit denen wir gesprochen haben, sagen ganz klar: Wir wollen gerne weiterleben, wir sind zufrieden. Das hat uns wirklich überrascht. Sie fühlen sich als eine Art „Lebenszeit-Gewinner“, die im Gegensatz zu anderen eben noch auf dieser Welt sein dürfen. Das ist ein schöner Beleg für Resilienz, die psychische Widerstandskraft. Trotz Einschränkungen finden sie noch einen Sinn in ihrem Leben und konzentrieren sich nicht nur auf ihre Krankheiten.
„Was mich immer wieder beeindruckt hat, war, dass 100-Jährige noch Ziele haben.“
Spielt also auch der Charakter eine Rolle, um erfolgreich sehr alt zu werden?
Jopp: Was mich immer wieder beeindruckt hat, war, dass 100-Jährige noch Ziele haben. Diese sind zwar nicht mehr so groß wie in jungen Jahren. Aber sie wollen zum Beispiel noch erleben, wie der Urenkel heiratet oder das Lieblings-Sportteam die Meisterschaft holt. Zudem sind mir viele Menschen begegnet, die Leidenschaften besitzen. Ein Dame in New York zum Beispiel, die einmal in der Woche Nachbarn und einen buddhistischen Mönch in ihre Wohnung einlädt, um über Philosophie zu diskutieren. Oder eine Holocaust-Überlebende, die nicht müde wurde, in Schulen zu gehen, um sich gegen Hass und für Versöhnung starkzumachen.
So eine Offenheit hilft sicher auch gegen Einsamkeit. Denn irgendwann sind alle Weggefährten, Partner, Freunde, vielleicht sogar die Kinder, verstorben.
Jopp: Solche Verluste sind tatsächlich einer der größte Nachteil der Langlebigkeit. In unseren Studien haben wir gesehen, dass aber das Persönlichkeitsmerkmal der Extraversion sehr hilfreich für das Wohlbefinden sein kann. Also offen zu sein für neue Beziehungen und gern mit anderen Menschen zusammen zu sein. 100-Jährige, die extrovertiert sind, schaffen es zum Beispiel, auch die Pflegekraft in ihren Freundeskreis einzubeziehen.
Zudem deuten Studien darauf hin, dass Optimisten wohl länger leben. Konnten Sie das auch beobachten?
Jopp: Ja, Optimismus scheint ein wichtiger Faktor zu sein. Im Vergleich zu 80- bis 95-Jährigen konnten wir tatsächlich sehen, dass 100-Jährige optimistischer sind. Ich denke, das ist ein Selektionseffekt: Wer mit 95 positiv in die Zukunft schaut, hat eine größere Chance, die 100 zu erreichen. Anders sieht es leider beim Lebenssinn aus.
Wie denn?
Jopp: Einen Sinn im Leben zu erkennen, nimmt im Durchschnitt mit zunehmendem Alter ab. Deshalb finde ich es so wichtig, auch 100-Jährigen eine Rolle in unserer Gesellschaft zu geben. Dass das geht, zeigen die Blue Zones, Gebiete in der Welt, in denen die Wahrscheinlichkeit, 100 zu werden, besonders hoch ist. Auf der japanischen Insel Okinawa zum Beispiel gibt es dörfliche Gremien, in denen sehr alte Menschen noch verantwortungsvolle Aufgaben zugedacht wird. So bleiben sie in der Öffentlichkeit sichtbar und die Allgemeinheit kann von ihrer Lebenserfahrung profitieren.
Woher rührt denn ihr Interesse für das Thema Langlebigkeit?
Jopp: Das hat mit einer Beobachtung in meine eigenen Familie angefangen. Ich hatte eine Großmutter, die an einer vaskulären Demenz erkrankt war und die letzten Jahre im Pflegeheim verbracht hat. Auf der anderen Seite der Familie gab es einen Großvater, der unglaublich lange aktiv war. Er hatte einen großen Freundeskreis, sang in Chören, war Mitglied in vielen Vereinen. Ich denke, seine vielfältigen Interessen, seine positive Grundeinstellung und sein Bewegungsdrang haben dazu geführt, dass er bis ins hohe Alter zufrieden und selbständig war. Das hat mich zu meiner zentralen Forschungsfrage geführt: Welche Faktoren bestimmen, dass manche lange und gut leben – und andere nicht.
Würden Sie denn selbst auch gern 100 oder älter werden?
Jopp: Insgesamt fürchte ich mich nicht vor dem Alter. Natürlich möchte ich nicht allzu krank sein. Aber ich würde auch mit 100 noch versuchen, mein Leben zu genießen, mich mit anderen auszutauschen, schöne Dinge zu erleben, vielleicht sogar zu reisen. Wir haben auch im Alter noch viel Gestaltungsspielraum. Das sollten wir uns alle vor Augen führen.