Gendermedizin

02.05.2023

„Sym­ptome wer­den häu­fig fehl­ge­deu­tet“

Die Gendermedizin geht davon aus, dass Männer und Frauen anders krank sind. Klinikleiter und Buchautor Burkhard Sievers erklärt, warum viele Menschen länger leben könnten, wenn mehr auf ihr Geschlecht geachtet würde.

Herr Prof. Dr. Sievers, laut einer aktuellen Umfrage  glaubt mehr als die Hälfte der Deutschen, dass das Geschlecht beim Thema Gesundheit keine Rolle spielt. Wie blicken Sie auf solche Ergebnisse? 

Burkhard Sievers: Das ist schon ziemlich erschütternd und deutet darauf hin, dass die Bevölkerung hier noch immer sehr uninformiert ist. Aber auch viele meiner ärztlichen Kolleginnen und Kollegen sind mit Gendermedizin eher wenig vertraut. Und das, obwohl Studien mittlerweile belegen, dass das Geschlecht ein wichtiger Faktor bei der Diagnostik und Behandlung von Erkrankungen ist. 

Wo und wann ist man denn erstmals auf diesen Zusammenhang gestoßen? 

Sievers: Ihren Ursprung hat die Gendermedizin Anfang der 1990er-Jahre in den USA. Dort, im Fachbereich Kardiologie, bemerkte man, dass ein Herzinfarkt bei Männern und Frauen oft mit ganz unterschiedlichen Beschwerden einhergeht. Enge- und Druckgefühl in der linken Brust und ausstrahlende Schmerzen in den linken Arm oder den linken Kiefer – das sind typische Symptome, die wohl jeder kennt und die bis heute auch im Medizinstudium gelehrt werden. Doch sie betreffen hauptsächlich Männer. Bei Frauen dagegen kündigt sich ein Herzinfarkt häufig ganz anders an. Sie haben eher Schmerzen im Oberbauch, hinter dem Brustbein oder auf der rechten Körperseite. Manchmal leiden sie auch unter Luftnot, Übelkeit oder schlicht einer Leistungsminderung.

Das führt doch sicher häufig zu Fehldiagnosen, oder? 

Sievers: Definitiv. Weil ihre Beschwerden oft nicht lehrbuchhaft sind, können Frauen sie selbst nicht einordnen und gehen folglich nicht oder viel zu spät in eine Klinik. Kommen sie dann doch in die Notaufnahme, werden ihre Symptome häufig fehlgedeutet. Mal vermutet man ein Magengeschwür oder eine Magenschleimhautentzündung. Mal verortet man die Ursache der Schmerzen im Bewegungsapparat und behandelt das Ganze fälschlicherweise orthopädisch. Dadurch verstreicht natürlich wertvolle Zeit und die Patientin bezahlt das im schlimmsten Fall mit ihrem Leben. Wussten Sie zum Beispiel, dass mehr Frauen als Männer an Herz-Kreislauf-Erkrankungen sterben? 

Nein.

Sievers: Und dass Frauen sogar häufiger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen sterben als an allen Krebsarten zusammen?

Leider auch nein. Aber bei Herzproblemen denkt man nun mal vor allem an den gestressten Manager und weniger an die berufstätige Mutter. 

Sievers: Dieses Missverständnis hängt vor allem mit den männlichen und weiblichen Sexualhormonen zusammen. Östrogen schützt Frauen gut vor Herz- und Gefäßkrankheiten. Was viele allerdings nicht wissen: Das gilt nur bis zu den Wechseljahren. Mit abnehmendem Östrogenspiegel steigt das Risiko für Bluthochdruck, Schlaganfall, Herzinfarkt und Herzschwäche steil an. Das bestätigt sich auch in unserer Klinik. Verglichen mit den Männern kommen Frauen etwa sieben bis zehn Jahre später mit solchen Erkrankungen in Behandlung.

Gibt es noch weitere Krankheiten, deren Risiko bei Frauen anders ausfällt als bei Männern? 

Sievers: Ja, zum Beispiel Infektionen. Auch hier stellt ein hoher Östrogenspiegel einen guten Schutz dar. Das Geschlechtshormon fördert die Abwehrreaktion, sodass Frauen eine schnellere, stärkere und länger andauernde Immunantwort besitzen. Das haben wir deutlich bei Covid-19 gesehen: Auf den Intensivstationen lagen mehr Männer. Und diese waren auch schwerer krank und sind häufiger verstorben als Frauen. Was bei Infektionen ein Vorteil ist, ist bei Autoimmunerkrankungen jedoch ein Nachteil. So sind Frauen zu 80 Prozent von Krankheiten wie Multiple Sklerose oder Hashimoto betroffen, da sich Antikörper bei ihnen viel öfter gegen die eigenen Zellen oder Organe richten. Weil das Geschlechtshormon Testosteron eher immunsuppressiv wirkt, erkranken Männer hier deutlich seltener. 

Neben den Hormonen: Welche körperlichen Unterschiede zwischen Mann und Frau sind für die Gendermedizin noch relevant? 

Sievers: Nehmen wir einen Sportler und eine Sportlerin. Obwohl beide vielleicht etwa gleich groß, gleich schwer und gleich gut trainiert sind, unterscheiden sie sich. Frauen haben in der Regel kleinere Organe, einen höheren Körperfettanteil und eine geringere Muskelmasse. Auch ihr Stoffwechsel läuft ganz anders und wird beeinflusst durch zyklusabhängige Hormonschwankungen. All das hat beispielsweise große Auswirkungen darauf, wie Medikamente wirken. Schluckt eine Frau eine Tablette, wird diese unter Umständen viel langsamer im Körper abgebaut als bei einem Mann. So dauert zum Beispiel der Transport durch den Magen-Darm-Trakt bei Frauen fast doppelt so lange wie bei Männern. Außerdem haben Frauen einen geringeren Magensäuregehalt sowie Leber und Nieren, die mehr Zeit für das Verstoffwechseln und Ausscheiden brauchen. 

Was können die Folgen sein? 

Sievers: Unfälle im morgendlichen Berufsverkehr zum Beispiel. Studien aus den USA  haben gezeigt, dass diese mehrheitlich von Frauen verursacht werden, weil am Abend zuvor eingenommene Schlafmittel bei ihnen länger wirken und so die Reaktionsschnelligkeit länger eingeschränkt ist als bei Männern. Oder betrachten wir eine Patientin, die ich heute früh behandelt habe. Dieser wurde ein blutdrucksenkendes Mittel verschrieben – in einer üblichen, für sie aber zu hohen Dosierung. Das Ergebnis: Nebenwirkungen. Solche Erfahrungen gefährden natürlich den Therapieerfolg, denn statt eine geringere Dosis zu versuchen, setzen viele das Medikament sofort ab.   

Müsste auf Beipackzetteln also „gegendert“ werden?

Sievers: Dass noch immer nach dem „Gießkannenprinzip“ verfahren wird und es dort keine Dosierungshinweise für Männer und Frauen gibt, ist absolut unverständlich. Bei Alkohol werden doch auch geschlechterspezifische Grenzwerte empfohlen. Das Problem beginnt allerdings schon viel früher, nämlich bei den Zulassungsstudien für neue Medikamente. Lange galt hier der männliche Körper als Norm und an Frauen wurde so gut wie gar nicht getestet. Das ist mittlerweile besser geworden. Heute liegt der Frauenanteil unter den Probanden bei 30 bis 35, manchmal auch bei 50 Prozent. Es gibt jedoch einen Haken: Die Ergebnisse werden kaum nach Geschlechtern getrennt ausgewertet. Welche Dosis reicht bei Frauen? Wie wirkt das Medikament vor und nach der Menopause? Nichts davon wird erhoben. 

Bei der Gendermedizin dreht sich viel um die Gesundheit der Frau. Können auch Männer davon profitieren? 

Sievers: Es gibt durchaus Krankheiten, bei denen Männer unterdiagnostiziert sind. Brustkrebs beispielsweise verbindet man fast ausschließlich mit Frauen. Obwohl einer von 100 Brustkrebsfällen einen Mann betrifft. Oder Osteoporose. Bricht sich ein älterer Herr etwas, kommt viel zu selten jemand auf die Idee, dass er an Knochenschwund leiden könnte. Unbehandelt kann dies fatale Folgen für die Mobilität im Alter haben. 

Auch von Depressionen scheinen Männer auf den ersten Blick weniger betroffen zu sein. 

Sievers: Ein Eindruck, der täuscht. In Anamnese-Fragebögen werden meist nur die für Frauen typischen Symptome wie Niedergeschlagenheit, Müdigkeit, Minderwertigkeitsgefühle und der Wunsch nach sozialer Isolation abgefragt. Bei Männern ist es hingegen gar nicht so selten, dass sich Depressionen eher in einem erhöhten Aggressions- und Suchtpotenzial äußern. Würde man das mehr berücksichtigen und früh eine Diagnose stellen, ließe sich viel verhindern. Das Abrutschen in den Alkoholismus zum Beispiel. Oder Suizide. Die Zahlen hier sind wirklich erschreckend. Männer nehmen sich drei Mal häufiger das Leben als Frauen. Pro Jahr sterben drei Mal mehr Männer durch Selbsttötung als durch Unfälle im Straßenverkehr. 

Ließe sich durch Gendermedizin also die Lebenserwartung weiter steigern? 

Sievers: Auf jeden Fall. Doch es geht nicht nur um das Verhindern vorzeitiger Todesfälle. Wird bei einer Frau früh ein drohender Herzinfarkt erkannt, kann die Behandlung beginnen, noch bevor das Herzmuskelgewebe irreversiblen Schaden nimmt. So verlängert sich auch die Zeitspanne, in der ein Leben ohne große Einschränkungen geführt werden kann. Noch besser für die Lebenserwartung und -qualität wäre es allerdings, wenn sich die Gendermedizin zu einer personalisierten Medizin weiterentwickeln würde. Wenn also nicht nur das Geschlecht, sondern auch Körpergröße, Körpergewicht, Trainingszustand, Muskelmasse, Hormonstatus und Lebensumstände einbezogen werden. 

Trotzdem steht die gendersensible Medizin in Deutschland noch relativ am Anfang. Wie lässt sich das ändern? 

Sievers: In den USA ist man tatsächlich schon viel weiter. Dort hat jede größere Klinik einen eigenen Bereich, der sich speziell mit Gendermedizin beschäftigt. Deshalb plädiere ich dafür, dass das Thema bei uns in die Lehrpläne von Medizinstudium, Weiterbildung und Ausbildung aufgenommen wird. Ärzte und Ärztinnen – von Kardiologie über Neurologie bis hin zu Psychiatrie – müssen über dieses Wissen verfügen. Ebenso wie Pflegepersonal in Krankenhäusern und medizinische Fachangestellte in Praxen. 

Können Mann und Frau auch selbst etwas tun? 

Sievers: Mein Rat: Beschäftigen Sie sich mit dem Thema und gehen Sie, insbesondere als Frau, informiert zum Arzt. Scheuen Sie sich nicht, Fragen zu stellen und den Arzt in die Pflicht zu nehmen, Erkrankung, Symptome und Medikamentendosis auch gendermedizinisch zu betrachten. Denn alle Geschlechter eint auch etwa: Stand heute wird wohl jeder und jede irgendwann eine Volkskrankheit wie Bluthochdruck, Krebs oder Diabetes bekommen. Zu wissen, dass es Unterschiede zwischen Patient und Patientin gibt, kann im Ernstfall helfen, länger zu leben. 

So heilt man heute

© ZS Verlag

In seinem Buch „So heilt man heute“ beleuchtet Prof. Dr. Burkhard Sievers die zehn häufigsten Volkskrankheiten unter dem Blickwinkel der Gendermedizin. Anschaulich wird erklärt, warum Männer und Frauen eine unterschiedliche Medizin brauchen, wie man Symptome korrekt zuordnet und was jeder und jede tun kann, um wirksam behandelt zu werden. Das Buch ist im ZS Verlag  erschienen und kostet 24,99 Euro.