Muskeln

11.05.2022

Starke Men­schen leben län­ger

Die Muskulatur wurde als Organ lange unterschätzt. Heute weiß man: Muskeln können Krankheiten verhindern und sollten daher ein Leben lang trainiert werden.

© Likoper/Getty Images

Ein praller Bizeps sieht gut aus. Doch Muskeln können viel mehr. 

Muskelkater ist wahrlich nicht schön. Beim Gehen schmerzen die Beine. Sich strecken oder bücken – kaum auszuhalten. Kurz: Es fühlt sich an, als wäre man ein hochbetagter Mensch. Tatsächlich ist aber eine Verjüngung im Gange. Denn was da wehtut, sind winzige Risse in den Muskelfasern, die entstehen, wenn wir Gewichte stemmen oder uns mit Sit-ups verausgaben. Der Körper repariert die Fasern und macht sie obendrein noch etwas dicker. Der Effekt: die Muskeln wachsen.  

Rund 650 von ihnen hat der Menschen. Durch Sehnen mit den Knochen verbunden, sitzen sie überall – vom Kopf bis hin zum kleinen Zeh. Dabei geht es vielen, die Krafttraining betreiben, wohl vor allem um Äußerlichkeiten. Ein praller Bizeps, stramme Waden, ein wohl definiertes Sixpack. Doch Muskeln können viel mehr. Im Grunde sind sie so etwas wie die lange verkannten Genies des Körpers. 

Muskeln bilden das größte Stoffwechselorgan 

„Früher hat man die Muskulatur gar nicht als Organ wahrgenommen“, erklärt Jürgen Gießing, Professor für Sportwissenschaften an der Universität Koblenz-Landau. „Sie ist wichtig, damit wir uns bewegen können – das war’s. Heute ist klar, dass jede einzelne Muskelzelle am Blutstrom hängt und alle zusammen das größte Stoffwechselorgan des Menschen bilden. Daher entscheidet Muskelmasse mit, wie lange wir leben.“

Recht deutlich belegt das eine Langzeitstudie mit rund 8800 Männern. Über 19 Jahre hinweg maß man ihre Kraft in Armen und Beinen und stellte am Ende fest: Vor allem jene mit einer schwachen Muskulatur litten unter körperlichen Beschwerden oder waren bereits verstorben. Verglichen mit den Starken, war ihre Sterblichkeit um bis zu 50 Prozent höher.  

Muskelmasse schützt vor Krankheiten 

Eine Ursache dafür sind die sogenannten Myokine, Botenstoffe, die nur in den Muskeln produziert werden und die ziemlich viel können. Sie stoppen Entzündungen, regulieren die Immunabwehr, schützen vor Demenz und scheinen, weil sie schädliche Substanzen neutralisieren, sogar an der Krebsprävention beteiligt zu sein. Einziger Haken: Wer keinen Sport treibt, kann das alles gleich wieder vergessen. Denn die winzigen Wohltäter werden nur ausgeschüttet, wenn die Muskulatur beim Krafttraining intensiv belastet wird.

„Auch um Typ 2-Diabetes vorzubeugen, gibt es kaum etwas Besseres als Hantelbank und Rudermaschine“, sagt Experte Gießing. Der Körper besitzt nämlich nur zwei Zuckerspeicher: die Leber und die Muskeln. Ist reichlich Muskelmasse vorhanden, kann der Zucker aus der Nahrung – statt im Blut zu zirkulieren – hier großflächig zwischengelagert werden. Das sorgt für gesunde Blutzuckerwerte und einen geringen Bedarf an Insulin. 

Schon ein halbe Stunde Krafttraining pro Woche bewirkt viel 

Dass die Muskulatur sehr aktives Gewebe ist, zeigt sich auch bei der Durchblutung. Gegenüber Fett zum Beispiel ist diese hier um ein Vielfaches stärker. Besonders die Neubildung kleinster Blutgefäße wird durch regelmäßiges Training angeregt. Das hält den Blutdruck in Schach, entlastet das Herz und wirkt langfristig der Verkalkung von Arterien entgegen. 23 Prozent – um so viel sinkt laut US-Forschern das Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall, wenn nur eine halbe Stunde pro Woche aus Krafttraining besteht.  

Was hingegen steigt, ist die Chance, überflüssige Pfunde loszuwerden. So schmelzen täglich – selbst im Ruhezustand – rund 15 Kalorien pro Kilogramm Muskelmasse dahin. Wird aktiv trainiert, verbrennen sogar zwischen 200 bis 300 Kalorien pro halbe Stunde. Danach dauert der erhöhte Energieverbrauch noch bis zu zwei Tage an. Denn während wir entspannt auf der Couch sitzen, „schuften“ die Muskeln weiter: Zuckerspeicher wieder auffüllen, Fasern reparieren, wachsen.  

Ab 30 schwindet die Muskulatur 

Bei all den guten Nachrichten kann Sportwissenschaftler Gießing daher nicht verstehen, warum die Muskulatur nach wie vor vernachlässigt wird. „Wollen die Leute etwas für ihre Gesundheit tun oder raten Ärzte zu mehr Bewegung, dann beginnen viele mit Schwimmen oder Joggen. Natürlich ist Ausdauersport prima, aber die Muskeln trainiert man damit kaum.“ Fatal, weil es auch eine sehr schlechte Nachricht gibt: Muskelmasse ist flüchtig. Tun wir nichts für ihren Erhalt, beginnt sie sich ab etwa dem 30. Lebensjahr abzubauen. Im Alter kann so gut und gerne die Hälfte des Gewebes verschwunden sein.  

Deshalb sollten die Muskelpartien regelmäßig gefordert werden. Idealerweise zwei bis drei Mal pro Woche durch Training an professionellen Geräten. Wichtig dabei: sich kontinuierlich steigern. Beim nächsten Besuch im Fitnessstudio den Widerstand an der Beinpresse erhöhen; mit der Hantel statt zehn nun elf Wiederholungen versuchen. Es darf in den Muskeln ruhig ein bisschen brennen. Um zu wachsen, brauchen sie den akuten Erschöpfungszustand. Das beste Ergebnis für die Gesundheit wird laut einer japanischen Studie übrigens erzielt, wenn Ausdauer- und Kraftsport kombiniert werden. So können Radfahren oder zügiges Gehen gepaart mit wöchentlich 30 bis 60 Minuten Muskeltraining das Sterberisiko um bis zu 40 Prozent senken.  

Muskeln erhöhen Mobilität im Alter

Doch starke Muskeln sorgen nicht nur für ein längeres Leben, sondern auch für Lebensqualität. „Gerade im Alter spielt es weniger eine Rolle, wie oft ich um mein Haus herumlaufen kann“, findet Gießing. „Viel wichtiger ist, ob ich morgens aus dem Bett und später zu Fuß in die dritte Etage komme.“ Für beides muss das eigene Körpergewicht gestemmt werden. Nur möglich mit ausreichend Muskulatur. Der Forscher macht jedoch Mut. In einer eigenen Studie ließ er 61- bis 80-jährige Muskelsportmuffel ein halbes Jahr lang trainieren. Ihr Fazit danach: Einkaufen, Treppensteigen, Gartenarbeit – alles fällt leichter. Jeder einzelne Muskelkater hat sich gelohnt.