Lebenszeitentwicklung

14.03.2022

Wor­auf der Anstieg der Lebens­er­war­tung seit 1990 zurück­geht

Seit der Wende ist die Lebenserwartung in Deutschland von rund 75 auf 81 Jahre gestiegen. US-Forscher haben berechnet, wie das Plus zustande kam. Ein Faktor sticht besonders hervor.

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Der Zugewinn an Lebenszeit seit 1990 geht vor allem auf die Fortschritte in der Herz-Medizin zurück, wie etwa besseren Monitoring-Systemen.  

1. Fortschritte bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen (+3,4 Jahre) 

Den größten Anteil am Anstieg der Lebenserwartung haben die Erfolge in der Bekämpfung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Waren verengte Herzkranzgefäße oder Myokardinfarkte 1991 noch für die Hälfte aller Todesfälle in Deutschland verantwortlich, so ist ihr Anteil inzwischen auf rund 35 Prozent gesunken. Versagen Herz und Kreislauf, dann zunehmend auch erst im hohen Alter.

Der Erfolg hat zwei Ursachen: Einerseits leben die Deutschen gesünder. So ist beispielsweise der Anteil der Raucher seit Jahrzehnten rückläufig. Zum anderen sind es die Fortschritte in der Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die sogenannte „kardiovaskuläre Revolution“ – also der Einsatz von neuen Medikamenten, Herzschrittmachern, Monitoring-Systemen, Stents oder künstlichen Herzklappen –, die in den späten 1960er-Jahren ihren Anfang nahm, hat die Überlebenschancen von Herzpatienten stark verbessert. Davon profitierten nach 1990 vor allem die Menschen in den neuen Bundesländern, wo die Herzmedizin vor der Wende nicht auf dem höchsten Niveau war.

2. Fortschritte bei Tumorerkrankungen (+0,6 Jahre) 

Rund ein Viertel aller Todesfälle ist auf Krebs zurückzuführen. Daran hat sich seit Anfang der 1990er nichts geändert. Allerdings steckt in der Nachricht auch etwas Positives. Betrachtet man nämlich den demografischen Wandel – zwischen 1991 und 2019 ist der Anteil der über 65-Jährigen von 15 auf 22 Prozent gestiegen – müsste es eigentlich einen deutlichen Zuwachs geben, da etwa drei Viertel aller Neuerkrankungen und Todesfälle in der Altersgruppe 60plus auftreten. 

Rechnet man den Effekt der alternden Bevölkerung heraus, wird das Bild klarer: Dann zeigt sich, dass allein in den letzten zehn Jahren die Erkrankungsrate um fast sieben, die Sterberate um nahezu neun Prozent gesunken ist. Verantwortlich dafür ist der medizinische Fortschritt mit seinen effektiveren Therapien und Angeboten der Früherkennung. Aber auch hier spielt die Tatsache, dass die Menschen zunehmend auf Alkohol und Zigaretten verzichten, eine wichtige Rolle. Experten wissen: Jede zweite Krebserkrankung ist durch gesundes Verhalten vermeidbar. 

3. Weniger Verkehrstote (+0,3 Jahre)

Durch strengere Verkehrsregeln und sicherere Autos sterben auf Deutschlands Straßen immer weniger Menschen. 1991 gab es fast 11.000 Verkehrstote – und damit rund vier Mal so viele wie heute. Eine Entwicklung, die die allgemeine Lebenserwartung beachtlich nach oben treibt, denn Verkehrstote sind zu einem Großteil Männer zwischen 20 und 35 Jahren.

4. Fortschritte bei Atemwegserkrankungen (+0,2 Jahre)

Wie groß der Einfluss des Tabakkonsums auf die Entstehung von Atemwegserkrankungen ist, zeigen Statistiken seit Ende der 90er Jahre: Lungenkrebs, die bis dato häufigste Tumorart bei Männern, fiel hinter Prostatakrebs erstmals auf Platz 2. Der Grund: In den 50ern rauchten noch neun von zehn Männern, aktuell greifen nur noch 26 Prozent der Männer und 20 Prozent der Frauen regelmäßig zur Zigarette.

Wird Lungenkrebs diagnostiziert, sind die Prognosen nach wie vor nicht gut. Aber immerhin hat die Medizin mit neuen Ansätzen wie Immuntherapie und hochspezialisierten Medikamenten der Erkrankung heute etwas mehr entgegenzusetzen. Fortschritte gibt es auch bei COPD. Unter allen chronischen Atemwegserkrankungen führt sie am häufigsten zum Tod. Durch bessere Therapien und den Rückgang der Raucherquote ist ihr Anteil zwischen 1991 und 2019 jedoch von 55 auf 46 Prozent gesunken.

5. Fortschritte bei Darmerkrankungen (+0,2 Jahre)

1991 waren Darmtumore für jeden zehnten Krebstoten verantwortlich – 2019 hatte sich dies auf jeden 14. verringert. Auch die Zahl der Erkrankungsfälle nimmt seit Anfang der 2000er-Jahre beachtlich ab. Ein Wendepunkt dürfte hier der Oktober 2002 sein: Seitdem können Versicherte ab 55 regelmäßig eine kostenlose Darmspiegelung in Anspruch nehmen. Wird Krebs so frühzeitig entdeckt, betragen die Überlebenschancen bis zu 95 Prozent. Ebenfalls von Bedeutung: Die bessere Behandelbarkeit von chronisch entzündlichen Darmerkrankungen. Hält man diese in Schach, sinkt die Krebs-Gefahr. Auch präventiv achten die Deutschen mehr auf ihre Darmgesundheit. Weil sie zum Beispiel weniger rotes Fleisch – neben dem Rauchen einer der Hauptrisikofaktoren.

6. Weniger Suizid- und Gewalttote (+0,2 Jahre)

1991 nahmen sich 14.011 Deutsche das Leben, also 21 Personen bezogen auf 100.000 Einwohner. Vor allem in den neuen Bundesländern war die Selbstmordrate in den Jahren nach der Wende besonders hoch. Heute sind die Zahlen dagegen weitaus geringer: 2019 zählte die Statistik 9.041 Suizidenten und damit eine im Vergleich fast halbierte Sterberate. Wirtschaftlicher Aufschwung und die zunehmende Enttabuisierung psychischer Erkrankungen dürften dazu beigetragen haben.

Ebenfalls zurückgegangen sind Tötungen durch Dritte. 1991 starben 2.708 Menschen in Folge von Mord oder Totschlag; 2019 waren es 2.315. Damit ist die Sterberate von 3,4 auf 2,8 je 100.000 Einwohner gefallen. Eine Abnahme, die auf den ersten Blick recht gering erscheint. Allerdings werden 86 Prozent der Gewaltopfer bereits im Alter von 21 bis 59 Jahren aus dem Leben gerissen.

7. Weniger Unfalltote (+0,1 Jahre)

Durch besseren Arbeitsschutz in Betrieben und auf Baustellen starb 2019 nur einer von 100.000 Erwerbstätigen, kurz nach der Wiedervereinigung waren es noch vier. In Haushalten hingegen ist die Zahl der tödlich Verunglückten von rund 8.400 auf 12.400 gestiegen. Von diesen Unfällen, vornehmlich Stürze, sind heute jedoch zu 82 Prozent Menschen im höheren Alter betroffen. In allen anderen Altersgruppen gingen die Zahlen teils drastisch zurück. Bei Menschen zwischen 65 und 75, die heutzutage viel fitter und damit weniger sturzanfällig sind, beispielsweise um die Hälfte.

8. Rückgang der Mütter- und Säuglingssterblichkeit (+0,1 Jahre)

Im 19. Jahrhundert war Mutterwerden ein großes Risiko: Bezogen auf 100.000 Geburten starben damals 300 bis 500 Frauen. Durch hohe Hygienestandards und engmaschige medizinische Betreuung konnten diese Zahlen enorm gesenkt werden – auch noch in den letzten 30 Jahren. Denn während heute auf 100.000 Lebendgeborene „nur“ vier verstorbene Mütter kommen, waren es Anfang der 90er noch mehr als doppelt so viele.

Auch die Zeiten, in denen durch Mangelernährung und Krankheiten bis zu ein Viertel aller Babys das erste Jahr nicht überlebte, sind lange vorbei. Zwischen 1990 und 2019 sank die Säuglingssterblichkeit nochmals um fast 80 Prozent und liegt aktuell bei drei von 1.000 Neugeborenen. Die Chance auf ein langes Leben besitzen somit heutzutage fast alle.