Bewegungsmangel

04.01.2021

Wer län­ger sitzt, ist frü­her tot

Die Hälfte ihrer Wachzeit verbringen die Deutschen im Sitzen. Das verursacht nicht nur Rückenschmerzen, sondern erhöht auch das Risiko schwerer Erkrankungen.

© Chris Fertnig / Getty Images

Sofa, Fernseher, Chips: Schon Kinder und Jugendliche verbringen zu viel Zeit im Sitzen. 

Der Hund ist der beste Freund des Menschen, heißt es. Aber eigentlich stimmt das so nicht. Denn zu ganz anderen Vierbeinern scheinen die Deutschen ein noch viel innigeres Verhältnis zu haben, nämlich zu Stuhl, Sessel und Sofa.

Laut einer Untersuchung der DKV verbringen die Deutschen werktags durchschnittlich 7,5 Stunden im Sitzen. Vom Küchenhocker am Morgen wechseln viele auf den Autositz oder den Platz in der Bahn. Von dort geht es für jeden zweiten Berufstätigen an einen Computerarbeitsplatz. Nach Feierabend wird weiter gesessen: im Restaurant oder Kino, auf der Couch oder im Ohrensessel. Sein Leben organisieren, ohne sich zu erheben? Kein Problem. Neue Kleidung kommt aus dem Online-Shop. Der Saugroboter übernimmt das Putzen. Die Fernbedienung schaltet den Fernseher ein und der Sprachassistent das Licht aus. 

Eine Stunde Sitzen = zwei Stunden weniger Lebenszeit

Dabei ist dauerhaftes Sitzen in unserem evolutionären Bauplan überhaupt nicht vorgesehen. Früher war der Mensch nahezu ständig auf den Beinen. Um von A nach B zu kommen, um Nahrung zu suchen, um sein Hab und Gut zu verteidigen. Wenn man sich setzte, dann um kurz zu verschnaufen. Unser Körper ist für Bewegung „konstruiert“. Prozesse und Zellen funktionieren nur dann optimal, wenn wir aktiv sind. Sind wir es über einen längeren Zeitraum nicht, kann es gefährlich werden.

Ginge es nach dem Anti-Sitz-Aktivisten James Levine, stünden daher nicht nur auf Zigarettenschachteln Gesundheitswarnungen, sondern auch auf jedem Stuhl oder Sofa. „Wir sitzen uns zu Tode“, sagt der US-Mediziner und mahnt: Für jede Stunde, die wir auf unseren vier Buchstaben verbringen, verlieren wir zwei Stunden Lebenszeit. Auch australische Forscher zeichnen in einer Studie mit rund 11.000 Teilnehmern ein düsteres Bild. Demnach leben Menschen, die täglich mehr als sechs Stunden vor der Mattscheibe hängen, 4,8 Jahre kürzer als Fernsehverweigerer. Oder anders gesagt: Jede Fernsehstunde verringert die Lebenserwartung um fast 22 Minuten.

Sitzen stört Blutfluss und Stoffwechsel

Doch was macht die Körperhaltung fast so schädlich wie das Rauchen? „Wir wissen, dass bereits nach 20 bis 30 Minuten Sitzen unser Körper mit ungünstigen Mechanismen reagiert“, sagt Carmen Jochem, Präventivmedizinerin von der Universität Regensburg. So werden in der sitzenden Position Arterien in der Leiste und den Kniekehlen abgeknickt. Das behindert den Blutfluss und begünstigt Gefäßverkalkung – eine Hauptursache für Herzinfarkt und Schlaganfall. Zudem erschlafft die sogenannte Wadenmuskelpumpe, und Blut, das eigentlich zum Herzen transportiert werden soll, staut sich zurück. Mögliche Folgen: erhöhter Blutdruck, Ödeme und Thrombosen.

„Auch der Zuckerstoffwechsel kann durch Sitzen gehörig aus dem Tritt kommen“, sagt Jochem. Machen wir es uns nach dem Essen gemütlich, gelangt Zucker nur langsam in die Zellen und verbleibt stattdessen im Blut. Um den Blutzuckerspiegel wieder zu senken, schüttet der Körper Insulin aus – und zwar mehr als bei Bewegung. Die Krux: Mit der Zeit werden die Zellen insulinresistent und der Blutzuckerspiegel bleibt dauerhaft hoch. „Ein Teufelskreis, der der Ausgangspunkt für einen Typ 2-Diabetes sein kann.“ 

Alle 30 Minuten mal aufstehen

Ähnliches gilt für Übergewicht. Zum einen, weil im Sitzen nur eine (!) läppische Kalorie pro Minute verbrannt wird. Zum anderen, so vermuten Forscher, weil Sitzen die Ausschüttung von Hormonen dämpft, die den Appetit zügeln. Und selbst Krebs scheint mit körperlicher Inaktivität in Verbindung zu stehen. Eine große Studie der Universität Regensburg konnte zeigen, dass schon zwei Stunden Sitzen das Risiko für Lungen-, Darm- und Gebärmutterhalskrebs um bis zu zehn Prozent erhöht. Die Ursachen sind allerdings noch nicht eindeutig geklärt.

Was also tun? Mehr Sport? Darüber ist sich die Wissenschaft uneinig. Manche empfehlen die Faustregel, auf acht Stunden Sitzen solle eine Stunde moderate bis intensive Bewegung kommen. Krafttraining, Radfahren oder ein zügiger Spaziergang – völlig egal. Andere Forschungsergebnisse weichen hingegen davon ab. Demnach sei Sport zwar nie verkehrt, sich jedoch nach einem 13-Stunden-Tag am Schreibtisch die Lunge aus dem Hals zu joggen, könne die bereits angerichteten gesundheitlichen Schäden kaum kompensieren.

Mehr Bewegung in den Alltag integrieren

Niemand müsse seinen Fernseher verkaufen oder vom Büroangestellten zum Sportlehrer umschulen, findet auch Medizinerin Jochem. „Wichtig ist, das Sitzen immer mal wieder zu unterbrechen. Am besten alle 30 Minuten.“ In ihrem Buch „Sitzstreik“ gibt sie Tipps, wie man im Alltag häufiger den Hintern hochkriegt. Stets im Stehen telefonieren zum Beispiel, die Kollegin zu Fuß besuchen, statt ihr eine E-Mail zu schreiben, aus einer Sitzung ein Steh-Meeting machen, Schere, Tacker und Papierkorb außer Reichweite platzieren. Letztendlich zähle jeder Schritt. 

In diesem Sinne wäre auch ein Hund zumindest ein guter Freund. Denn die Vierbeiner halten Herrchen und Frauchen auf Trab und verhelfen ihnen zu einer höheren Lebenserwartung.