Lebenserwartung

18.10.2022

„Wir gehen davon aus, dass die Lebens­er­war­tung wie­der zunimmt“

Die Lebenserwartung in Deutschland ist während der Corona-Pandemie gesunken. Das sei jedoch nur eine Momentaufnahme, sagt die Demografin Marieke Smilde-Becker. In Zukunft könne sie wieder steigen – wenn auch nicht mehr so schnell.

Frau Smilde-Becker, das Statistische Bundesamt hat kürzlich berechnet, dass die Lebenserwartung bei Geburt zwischen 2019 und 2021 bei Jungen um 0,6 und bei Mädchen um 0,4 Jahre zurückgegangen ist. Für einen Laien hört sich das nicht nach allzu viel an. Wie beurteilen Sie das jedoch als Statistikerin?

Marieke Smilde-Becker: Allgemein steigt die Lebenserwartung ja seit Ende des 19. Jahrhunderts fast kontinuierlich an. Zunächst rasant – vor allem durch die Verringerung der Säuglingssterblichkeit –, spätestens seit den 1960er-Jahren dann verlangsamt. Innerhalb dieses langfristigen Trends kam es jedoch auch immer mal wieder zu Rückgängen. Im letzten Jahrzehnt zum Beispiel 2018. Damals senkte eine starke Grippewelle die Lebenserwartung bei Geburt um 0,1 Jahre.

Der jetzige Rückgang ist im Vergleich dazu also durchaus bemerkenswert.

Smilde-Becker: Absolut. Zumal auch früher in der Regel auf ein Jahr mit Rückgang jeweils im nächsten Jahr wieder eine Zunahme folgte. Jetzt hingegen ist die Lebenserwartung 2020 und 2021 und damit zwei Jahre in Folge gesunken. Überrascht hat uns diese Entwicklung nicht, da früh sichtbar wurde, dass die Zahl der Sterbefälle deutlich höher lag, als zu erwarten war.

Ist Corona hier die einzige Ursache? Man könnte ja auch meinen: Wenn es in Deutschland immer mehr Ältere gibt, dann nehmen logischerweise Jahr für Jahr auch die Sterbefälle zu.

Smilde-Becker: Was wir beobachten, geht deutlich über diesen Alterungseffekt hinaus. Verglichen mit den Vorjahren gab es 2020 und 2021 auch unter Berücksichtigung der Alterung etwa 70.000 bis 100.000 Sterbefälle mehr. Gleichzeitig wurden beim Robert-Koch-Institut (RKI) in diesen beiden Jahren fast 115.000 Covid-19-Todesfälle gemeldet. Zudem zeigten sich Phasen von Übersterblichkeit, die sich in der Tendenz mit den RKI-Daten zu Todesfällen, bei denen ein Covid-19-Befund vorliegt, decken. Übersterblichkeit heißt: In einem bestimmten Zeitraum versterben mehr Menschen als „üblich“ – also verglichen mit dem gleichen Zeitraum in den Vorjahren. In der Größenordnung stechen die Corona-Wellen im Herbst und Winter deutlich heraus. Insbesondere vor dem Hintergrund der Eindämmungsmaßnahmen, die es in den Grippejahren zuvor nicht gab. Es liegt also auf der Hand, dass Corona hier den größten Einfluss hat.

Besonders stark ist der Rückgang der Lebenserwartung in Ostdeutschland. Mädchen verloren dort 0,9, Jungen sogar 1,3 Lebensjahre. Was sind hier mögliche Gründe?

Smilde-Becker: In beiden bisherigen Winterwellen waren die ostdeutschen Bundesländer von vergleichsweise hohen Inzidenzen und zeitgleich auch von einer deutlich höheren Übersterblichkeit betroffen als die meisten westdeutschen Bundesländer. Im November und Dezember lagen die Sterbefallzahlen in Thüringen und Sachsen etwa 50 Prozent über dem Vergleichswert. Die Pandemie hat sich in Ostdeutschland offensichtlich deutlich stärker ausgewirkt.

Könnten Unterschiede im Impfverhalten hier eine Rolle spielen?

Smilde-Becker: Ein Zusammenhang zwischen geringer Impfquote und höherer Übersterblichkeit und letztendlich einem stärkeren Rückgang der Lebenserwartung ist durchaus möglich. Eindeutig können wir dies aber mit den reinen Sterbefallzahlen nicht sagen. Hierfür wären genauere Analysen der Todesursachen in Verbindung mit dem Impfstatus nötig, die so aber in Deutschland aktuell nicht vorliegen. Der einzige Grund war es aber vermutlich nicht, da Ostdeutschland schon stärker betroffen war, als die Impfung noch gar nicht zur Verfügung stand.

Ist es überhaupt richtig, von „verlorenen Lebensjahren“ zu sprechen? Hat sich unser Leben durch die Pandemie jetzt auf immer und ewig verkürzt?

Smilde-Becker: Nein. Unsere Berechnungen beruhen auf sogenannten Periodensterbetafeln. Diese dienen nicht der Prognose oder Vorhersage, wie sich die Sterblichkeitsverhältnisse künftig entwickeln werden. Es handelt sich stattdessen um eine Momentaufnahme. Die Lebenserwartung Neugeborener gibt hier letztendlich an, wie lange sie leben würden, wenn sie den aktuellen Sterblichkeitsverhältnissen für den Rest ihres Lebens ausgesetzt wären.

Sie sind also optimistisch, dass aus dem Rückgang in den nächsten Jahren wieder eine Zunahme wird?

Smilde-Becker: Wir wissen natürlich nicht, wie sich die Langzeitfolgen von Covid-19 auswirken. Die Vergangenheit hat aber gezeigt, dass Rückgänge der Lebenserwartung, wie zum Beispiel der sehr starke Einschnitt durch die Spanischen Grippe Anfang des letzten Jahrhunderts, in kurzer Zeit wieder ausgeglichen und der zuvor bestehende Trend wieder aufgenommen werden konnte. Daher gehen wir derzeit davon aus, dass die Lebenserwartung wieder zunimmt. Durch die aktuelle Entwicklung könnte die Steigerung allerdings etwas niedriger ausfallen als zuvor.

Glauben Sie, dass der Klimawandel zukünftig einen ähnlich negativen Einfluss auf die Lebenserwartung haben könnte wie Grippe und Corona?

Smilde-Becker: Mittel- und langfristig ist das nicht auszuschließen. Wie bereits in den Vorjahren, sehen wir auch in diesem Jahr wieder erhöhte Sterbefallzahlen, die mit Hitzewellen zusammenfallen. Im Vergleich zu Grippewellen oder Corona sind diese allerdings bisher noch sehr gering. Wie sich das in Zukunft entwickelt, wird davon abhängen, wie stark sich die Temperaturen verändern. Untersuchungen zeigen jedoch auch, dass es einen Anpassungseffekt geben könnte. Wenn Menschen vermehrt ihr Verhalten abstimmen, also zum Beispiel ausreichend Flüssigkeit zu sich nehmen und schattige oder klimatisierte Räume aufsuchen, ließe sich die Sterblichkeit in Hitzeperioden und damit auch ein mögliches Sinken der allgemeinen Lebenserwartung dämpfen.